Leitsatz (amtlich)

1. Eine Anordnung kindesschutzrechtlicher Maßnahmen nach §§ 1666, 1666a BGB kommt nur dann in Betracht, wenn nach Überzeugung des Familiengerichts die tatsächlichen Voraussetzungen der Norm vorliegen, die dies gebieten oder zumindest erlauben; kann das Gericht diese Überzeugung nicht gewinnen, muss die Maßnahme unterbleiben (vgl. BVerfG FamRZ 2020, 422 Rn. 16; BeckOGK/Burghart BGB § 1666 Rn. 167).

2. Die Frage, ob das Jugendamt ein Tätigwerden des Familiengerichts für erforderlich hält, obliegt gem. § 8a Abs. 2 S. 1 SGB VIII alleine seinem fachlichen Ermessen und ist deshalb auch nicht der (verwaltungs-)gerichtlichen Kontrolle unterworfen (OLG Frankfurt ZKJ 2014, 31; vgl. auch VGH Kassel ZKJ 2013, 82), allerdings geht mit der Anrufung des Familiengerichts die verantwortliche Gefährdungsfeststellung auf dieses über (Staudinger/Coester (2020) BGB § 1666 Rn. 17 mwN.).

3. Angesichts dieser abgestuften, klar strukturierten Aufgabenverteilung kann Gegenstand einer familiengerichtlichen Entscheidung - die ja nach §§ 1666, 1666a BGB die Feststellung einer Kindeswohlgefährdung voraussetzt - nicht mehr sein, das Jugendamt mittels gerichtlicher Anordnungen erst in die Lage zu versetzen, die bereits delegierte Gefährdungsfeststellung doch wieder in eigener Zuständigkeit vorzunehmen.

 

Tenor

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

Von der Erhebung von Gerichtskosten und von der Anordnung einer Erstattung außergerichtlicher Kosten wird für das Beschwerdeverfahren abgesehen.

Der Verfahrenswert für den zweiten Rechtszug wird festgesetzt auf 4.000 EUR.

 

Gründe

I. Der Beschwerde liegt das Anliegen des Jugendamts zugrunde, die beteiligten Kindeseltern zur Mitwirkung am Verfahren der Gefährdungseinschätzung nach § 8a SGB VIII zu veranlassen und in diesem Rahmen eine Inaugenscheinnahme der betroffenen Kinder A. (10 Monate), B. (fast 4 Jahre) und C. (17 Jahre) sicherzustellen.

Die miteinander verheirateten und gemeinsam sorgeberechtigten Kindeseltern leben mit den drei betroffenen Kindern und ihrer ältesten - inzwischen volljährigen -Tochter D. in Wetzlar. Ende 2019 beging C. in einem Drogeriemarkt in Wetzlar einen Ladendiebstahl (Parfum-Flakons), für den sie mit Urteil des Amtsgerichts vom ... 2020 zu Az. ... verwarnt wurde, ferner wurden ihr 50 Stunden gemeinnütziger Arbeit auferlegt. Im Januar 2020 wandte sich D. hilfesuchend an das dortige Jugendamt, schilderte Bedrohungen und Beleidigungen durch ihren Vater und gab an, von ihm einmal geohrfeigt worden zu sein. Das deshalb eingeleitete Verfahren nach § 8a SGB VIII endete mit einer Vereinbarung zwischen D., der miteinbezogenen Großmutter und den Eltern, dass diese künftig an ihrem Erziehungsverhalten arbeiten sollten. Ein Jahr später, am 07.01.2021, beging C. einen weiteren Ladendiebstahl, Mittäterin war der Vermutung der Polizei zufolge ihre ältere Schwester D. Die Videoaufzeichnung des betroffenen Ladengeschäfts zeigte weitere Personen, bei denen es sich um die (damals schwangere) Kindesmutter und das Kind B. gehandelt haben könnte. Das von ihnen benutzte Fluchtauto wurde anhand seines Kennzeichens der Kindesmutter zugeordnet. D. soll nach dem Bericht der Kaufhausdetektivin nach ihrer Festnahme keinerlei Unrechtsbewusstsein gezeigt haben, sondern ausgesprochen frech aufgetreten sein. Das von der Polizei informierte Jugendamt lud die Familie vergeblich zu einem Gespräch in die Räume der Behörde ein. Auf telefonische Nachfrage erklärte der Kindesvater, er sehe keine Veranlassung, der Einladung zu folgen, seine Kinder seien nicht gefährdet.

Auf Anregung des Jugendamts leitete das Familiengericht ein Sorgerechtsverfahren ein, bestellte einen Verfahrensbeistand und hörte Eltern und Kinder persönlich an. Die Anhörung der Kinder vom 13.04.2021 erfolgte erst nach Überwindung starker Vorbehalte des massiv auftretenden Kindesvaters, der zumindest auch seinen Sohn B. einschüchterte und dadurch von einem Gespräch mit dem erkennenden Richter abzuhalten versuchte. Auf den weiteren Inhalt des Anhörungsvermerks vom 13.04.2021 sowie der Sitzungsniederschrift vom 29.04.2021 wird verwiesen. Mit Stellungnahme vom 27.06.2021 führte der Verfahrensbeistand aus, die Familie sei zwar unkooperativ, eine akute Kindeswohlgefährdung aber nicht zu erkennen.

Mit Beschluss vom 06.08.2021 sah das Familiengericht von der Ergreifung familiengerichtlicher Maßnahmen nach §§ 1666, 1666a BGB ab und führte zur Begründung im Wesentlichen aus, die familiengerichtlichen Ermittlungen hätten keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung ergeben. Auf den weiteren Inhalt der Entscheidung wird verwiesen.

Mit seiner am 10.09.2021 beim Amtsgericht eingegangenen Beschwerde gegen den am 17.08.2021 zugestellten Beschluss strebt das Jugendamt zur Einschätzung der Erforderlichkeit weiterer Handlungsschritte an, dass die beteiligten Kindeseltern zur Mitwirkung am Verfahren der Gefährdungseinschätzung nach § 8a SGB VIII und damit zur Sicherstellung der Inaugenscheinnahme der betroffenen Kinder verpflichtet werd...

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