Leitsatz (amtlich)

1. Bereits im Jahre 1994 war durch zahlreiche Veröffentlichungen in den maßgebenden Zeitschriften allgemein bekannt, dass bei einer plötzlichen Schulterdystokie zunächst die Wehentätigkeit medikamentös zu unterbinden und eine großzügige Episiotomie anzulegen ist; anschließend muss der Versuch unternommen werden, die im Becken verkeilte kindliche Schulter durch mehrfaches Beugen und Strecken der mütterlichen Beine, durch Druck oberhalb der Symphyse oder durch eine intravaginale Rotation zu lösen.

2. Begnügt sich ein ärztlicher Geburtshelfer bei einer Schulterdystokie damit, ein wehenförderndes Medikament zu verabreichen und die Entbindung durch einen massiven Einsatz des Kristeller-Handgriffs zu beschleunigen, ist sein Vorgehen auch unter Berücksichtigung der Bedrohlichkeit der Situation als grob fehlerhaft einzustufen. Eine solche Einschätzung kommt selbst dann in Betracht, wenn die schwangere Patientin es an der wünschenswerten Kooperation fehlen lässt; ihr Widerstand ist nämlich regelmäßig durch Anlage eines Querbetts und durch Unterbindung der schmerzhaften Wehentätigkeit zu überwinden.

 

Normenkette

BGB §§ 242, 249 ff., § 276 a.F., §§ 611, 847

 

Verfahrensgang

LG Kleve (Aktenzeichen 1 O 414/97)

 

Nachgehend

BGH (Urteil vom 17.10.2002; Aktenzeichen III ZR 58/02)

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das am 2.2.2001 verkündete Grundurteil der 1. Zivilkammer des LG Kleve wird zurückgewiesen.

Mit Zustimmung der Parteien wird über den prozessualen Streitgegenstand abschließend wie folgt entschieden:

1. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger

a) ein Schmerzensgeld i.H.v. 13.000 EUR nebst 4 % Zinsen seit dem 27.2.1998 zu zahlen;

b) an den Kläger eine monatliche Schmerzensgeldrente i.H.v. 100 EUR ab dem 1.8.1997 vierteljährlich im Voraus jeweils zum 1.2., 1.5., 1.8. und 1.11. eines jeden Jahres zu zahlen;

c) an den Kläger für den Zeitraum vom 13.4.1994 bis zum 31.7.1997 an rückständiger Rente 3.960 EUR nebst 4 % Zinsen seit dem 27.2.1998 zu zahlen.

2. Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger sämtliche materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, die in Zukunft daraus entstehen, dass es bei seiner Geburt zu einer linksseitigen oberen Armplexusparese gekommen ist, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergehen.

Die weiter gehende Klage wird abgewiesen.

Von den Kosten des Rechtsstreits werden 20 % dem Kläger und 80 % den Beklagten als Gesamtschuldnern auferlegt.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

 

Tatbestand

Die am … 1960 geborene Mutter des Klägers, die in ihrem Heimatland Z. drei Kinder geboren hatte, war im Jahre 1993 erneut schwanger. Am 4.4.1994 wurde sie in der rechnerisch 38. Schwangerschaftswoche mit in den Bauch ausstrahlenden Rückenschmerzen in der geburtshilflichen Abteilung des W.A.Hospitals G., dessen Trägerin die Beklagte zu 1) ist, stationär aufgenommen. Aufgrund einer Sonographie vom 6.4.1994 wurde das zu erwartende Geburtsgewicht auf 4.000 bis 4.200 g geschätzt; dieser Befund veranlasste den untersuchenden Arzt, auf die Gefahr einer Schulterdystokie hinzuweisen. Am 13.4.1994 wurde die Geburt mit dem wehenfördernden Medikament Oxytocin eingeleitet. Um 18.25 Uhr befand sich der kindliche Kopf am Beckenboden; das geburtshilfliche Team unter Leitung des Beklagten zu 2) lagerte die Patientin zur Entbindung. Die um 18.33 Uhr abgeschlossene Geburt ist in den Behandlungsunterlagen wie folgt beschrieben:

„Deprimierter männlicher Säugling; massiver Kristellereinsatz nach drei Einheiten Syntocinon intravenös; Schulterdystokie; mangelnde Kooperation der Mutter; Säugling abgesaugt; kurzzeitig bebeutelt; O2-Gabe; Apgar 6/8/9; pH-Wert 7,2.”

Bei der Neugeborenen-Erstuntersuchung des Klägers wurde der Verdacht auf eine linksseitige Claviculafraktur geäußert; die späteren pädiatrischen Untersuchungen ergaben eine obere Plexuslähmung, durch welche die Funktionstüchtigkeit des linken Arms beeinträchtigt ist.

Der Kläger lastet diese Behinderung den Beklagten an. Er hat im Anschluss an zwei Bescheide der hiesigen Gutachterkommission (Bl. 14 ff., 20 ff. GA) geltend gemacht, die verantwortlichen Geburtshelfer hätten auf den plötzlichen Eintritt der Schulterdystokie nicht sachgerecht reagiert. Angesichts der zu erwartenden Größe der Leibesfrucht wäre es angebracht gewesen, die Entbindung durch Kaiserschnitt herbeizuführen. Abgesehen davon hätten sich die Geburtshelfer nach der Entwicklung des kindlichen Kopfs und dem anschließenden Geburtsstillstand darauf beschränkt, massiven Druck auf den Oberbauch der Patientin auszuüben; diese Maßnahme sei bei einer Schulterdystokie grundsätzlich kontraindiziert. Bei einem einwandfreien Vorgehen wäre die nicht mehr reversible Plexuslähmung nicht eingetreten. Durch den vermeidbaren Vorfall sei er auf Dauer nicht im Stande, seinen linken Arm zu belasten.

Der Kläger hat beantragt,

1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn

a) ein angemessenes Schmerz...

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