Leitsatz (amtlich)

Ist die ergänzende Zulässigkeitsvoraussetzung des § 83 Nr. 4 IRG, wonach bei lebenslanger Freiheitsstrafe eine Überprüfung der Vollstreckung der verhängten Strafe spätestens nach 20 Jahren erfolgen muss, durch die nach Art. 560 ff. der polnischen Strafprozessordnung vorgesehene Möglichkeit einer - gemäß Art. 139 der polnischen Verfassung dem Präsidenten der Republik vorbehaltenen - Begnadigung erfüllt?

 

Tenor

Die Sache wird dem Bundesgerichtshof gemäß § 42 Abs. 1 IRG zur Entscheidung über folgende Rechtsfrage vorgelegt:

Ist die ergänzende Zulässigkeitsvoraussetzung des § 83 Nr. 4 IRG, wonach bei lebenslanger Freiheitsstrafe eine Überprüfung der Vollstreckung der verhängten Strafe spätestens nach 20 Jahren erfolgen muss, durch die nach Art. 560 ff. der polnischen Strafprozessordnung vorgesehene Möglichkeit einer - gemäß Art. 139 der polnischen Verfassung dem Präsidenten der Republik vorbehaltenen - Begnadigung erfüllt

 

Gründe

I.

Der Verfolgte ist zur Vollstreckung der gegen ihn durch Urteil des Amtsgerichts S. vom 10. April 2007 wegen Einbruchdiebstahls verhängten Freiheitsstrafe von drei Jahren an die polnische Regierung ausgeliefert worden.

Ein weiteres Auslieferungsersuchen der polnischen Justizbehörden stützt sich auf den Europäischen Haftbefehl des Bezirksgerichts S. vom 11. März 2008, dem der Haftbefehl des Amtsgerichts S. vom 13. November 2007 zugrunde liegt, durch den die Verhaftung des Verfolgten zur Strafverfolgung wegen versuchten Mordes und unerlaubten Waffenbesitzes gesichert werden soll. Darin wird dem Verfolgten zur Last gelegt:

Am 24. Juni 2007 gegen 22.30 Uhr gab der Verfolgte in der Bar P. in S. in Tötungsabsicht mit einer automatischen Pistole Tokarew TT-33 mehrere Schüsse auf den Geschädigten B. ab. Das Tatopfer erlitt Schusswunden am linken Arm und linken Gesäß sowie eine oberflächliche, 5 cm lange Wunde am Bauch. Über eine Erlaubnis zum Führen der Schusswaffe verfügte der Verfolgte nicht.

Nach § 148 § 2 Nr. 4 des polnischen Strafgesetzbuches wird derjenige, der einen Menschen mit Hilfe einer Schusswaffe tötet, mit Freiheitsstrafe von 25 Jahren oder mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft. Nach Art. 14 § 1 des polnischen Strafgesetzbuches ist die Strafe für einen Versuch innerhalb des Rahmens der für die betreffende Straftat vorgesehenen Strafandrohung zu bemessen. Demnach kommt vorliegend die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe in Betracht. Gemäß Art 78 § 3 Halbs. 2 des polnischen Strafgesetzbuches findet eine gerichtliche Prüfung, ob eine zu lebenslanger Haft verurteilte Person vorzeitig auf Bewährung entlassen werden kann, erst nach einer Verbüßungsdauer von 25 Jahren statt.

II.

Der Senat legt die Sache dem Bundesgerichtshof nach § 42 Abs. 1 IRG zur Entscheidung über die im Beschlusstenor bezeichnete Rechtsfrage vor. Die Vorlage erfolgt nach beiden Alternativen des § 42 Abs. 1 IRG.

Zum einen ist eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung zu klären, da sich diese im deutsch-polnischen Auslieferungsverkehr jederzeit wieder stellen kann. Zum anderen beabsichtigt der Senat, von Entscheidungen anderer Oberlandesgerichte abzuweichen.

Das OLG Koblenz hat mit Beschluss vom 21. Juni 2007 (OLGSt IRG § 10 Nr. 2) entschieden, dass die bei lebenslanger Freiheitsstrafe in § 83 Nr. 4 IRG spätestens nach 20 Jahren vorausgesetzte Überprüfung der weiteren Strafvollstreckung durch das polnische Gnadenrecht hinreichend gewährleistet sei. Dieser Auffassung hat sich das OLG Celle mit Beschluss vom 19. Oktober 2009 (1 ARs 40/09 Ausl) angeschlossen.

Dass bereits durch die Möglichkeit eines Gnadenaktes die nach § 83 Nr. 4 IRG erforderliche Überprüfung gewährleistet sei, haben andere Oberlandesgerichte ferner für die Auslieferung nach Ungarn (OLG Köln, Beschluss vom 27. April 2009, OLGSt IRG § 83 Nr. 2) und Lettland (OLG Celle, Beschluss vom 10. Oktober 2008, 1 ARs 40/08 Ausl) angenommen.

Die Rechtsfrage ist für das anhängige Verfahren von Bedeutung, da der Senat zu entscheiden hat, ob die Auslieferung des - bereits zur Strafvollstreckung ausgelieferten - Verfolgten, der auf die Einhaltung des Grundsatzes der Spezialität nicht verzichtet hat, zur Strafverfolgung wegen des ihm zur Last gelegten versuchten Mordes zulässig wäre.

III.

Der Senat teilt nicht die Auffassung des OLG Koblenz und des OLG Celle, wonach das polnische Gnadenrecht die ergänzende Zulässigkeitsvoraussetzung des § 83 Nr. 4 IRG erfüllt. Vielmehr ist der Senat der Auffassung, dass die Möglichkeit eines Gnadenaktes generell den Anforderungen des § 83 Nr. 4 IRG nicht genügt.

1.

Die in § 83 Nr. 4 IRG getroffene Regelung geht zurück auf Art. 5 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (Rb-EuHb). Dort heißt es:

"Ist die Straftat, die dem Europäischen Haftbefehl zugrunde liegt, mit lebenslanger Freiheitsstrafe oder einer lebenslangen freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bedroht, so kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbe...

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