Leitsatz (amtlich)

Die Regelung des § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO, wonach ein Kraftfahrzeugführer sein Gesicht nicht so verhüllen oder verdecken darf, dass er nicht mehr erkennbar ist, dient präventiv der Sicherheit des Straßenverkehrs und dem Schutz hochrangiger Rechtsgüter (Leben, Gesundheit, Eigentum) anderer Verkehrsteilnehmer. Das Verhüllungsverbot ist mit dem Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 u. 2 GG vereinbar und auch von einer Muslima, die aus religiösen Gründen einen Niqab trägt, zu beachten.

 

Normenkette

GG Art. 4 Abs. 1-2; StVO § 23 Abs. 4 S. 1; OWiG § 79 Abs. 1 S. 2, § 80 Abs. 1 Nr. 1, § 80a Abs. 3

 

Tenor

  1. Der mitunterzeichnende Einzelrichter lässt die Rechtsbeschwerde zu und überträgt die Sache dem Bußgeldsenat in der Besetzung mit drei Richtern.
  2. Die Rechtsbeschwerde wird auf Kosten der Betroffenen als unbegründet verworfen.
 

Gründe

I.

Das Amtsgericht hat die Betroffene wegen "vorsätzlichen Führens eines Kraftfahrzeugs mit verdecktem Gesicht" zu einer Geldbuße von 66 Euro verurteilt. Bei der Betroffenen handelt es sich um eine gläubige Muslima. Sie trug zur Tatzeit beim Führen ihres Pkw einen Niqab, d. h. eine das Gesicht bis auf die Augenpartie verhüllende Vollverschleierung. Gegen das Urteil richtet sich ihr Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde.

II.

Der mitunterzeichnende Einzelrichter lässt die Rechtsbeschwerde zu, weil es geboten ist, die Nachprüfung des Urteils zur Fortbildung des sachlichen Rechts zu ermöglichen (§ 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG). Soweit ersichtlich war das durch § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO angeordnete Gesichtsverhüllungsverbot unter dem Gesichtspunkt, dass sich eine gläubige Muslima an dessen Beachtung aus religiösen Gründen gehindert sieht, in einer Bußgeldsache bisher nicht Gegenstand der obergerichtlichen Rechtsprechung. Die dazu bekannte Rechtsprechung ist im Verwaltungsrechtsweg zur Frage der Erteilung einer Ausnahmegenehmigung (§ 46 Abs. 2 Satz 1 StVO) ergangen.

Gemäß § 80a Abs. 3 OWiG ist die Sache dem Bußgeldsenat in der Besetzung mit drei Richtern zu übertragen.

III.

Die allein auf die Sachrüge gestützte Rechtsbeschwerde ist unbegründet.

1.

Der Schuldspruch weist keinen Rechtsfehler auf.

Gemäß § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO darf, wer ein Kraftfahrzeug führt, sein Gesicht nicht so verhüllen oder verdecken, dass es nicht mehr erkennbar ist. Gegen das Gesichtsverhüllungsverbot hat die Betroffene vorsätzlich verstoßen, indem sie als Kraftfahrzeugführerin einen Niqab getragen hat.

a)

Diese Verbotsnorm ist wirksam. Sie verstößt auch unter Berücksichtigung der durch Art. 4 Abs. 1 u. 2 GG geschützten Religionsfreiheit und Religionsausübung nicht gegen den Wesentlichkeitsvorbehalt, wonach der parlamentarische Gesetzgeber die wesentlichen Entscheidungen in allen grundlegenden normativen Bereichen selbst zu treffen hat (vgl. VG Düsseldorf, Beschluss vom 26. November 2020, 6 L 2150/20, bei juris = BeckRS 2020, 33205; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 8. Januar 2021, 14 L 1537/20, bei juris = BeckRS 2021, 55).

Das VG Düsseldorf hat dazu ausgeführt:

"Die Verpflichtung, beim Führen von Kraftfahrzeugen das Gesicht weder zu verhüllen noch sonst zu verdecken, führt zu keiner gezielten oder unmittelbar den Schutzbereich der Religionsfreiheit betreffenden Beschränkung. Sie stellt vielmehr eine generelle Anordnung dar, die nur in seltenen Fällen mit der Religionsfreiheit kollidieren kann. Auch in etwaigen Konfliktfällen ist die Intensität des Eingriffs in der Regel gering, weil das Verhüllungsverbot nur das Führen eines Kraftfahrzeuges betrifft und die Religionsausübung damit nur in einer eng begrenzten und für die Religionsfreiheit typischerweise nicht wesentlichen Lebenssituation eingeschränkt sein kann."

Aus diesen Erwägungen, denen sich der Senat anschließt, bedarf das Gesichtsverhüllungsverbot für Kraftfahrzeugführer ebenso wenig einer unmittelbaren Ausgestaltung durch den parlamentarischen Gesetzgeber wie etwa die Schutzhelmpflicht für Motorradfahrer (§ 21a Abs. 2 Satz 1 StVO), die auch für Personen gilt, die aus religiösen Gründen einen Turban tragen (vgl. hierzu: BVerwG NJW 2019, 3466).

b)

Die Regelung des § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO verstößt auch sonst nicht gegen höherrangiges Recht und ist mit dem Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 u. 2 GG vereinbar.

Durch das Gesichtsverhüllungsverbot wird niemand an der Ausübung seines Glaubens gehindert. Bei Befolgung der von ihr als verbindlich erachteten Vollverschleierungspflicht (Niqab) muss die Betroffene, die nicht über eine Ausnahmegenehmigung nach § 46 Abs. 2 Satz 1 StVO verfügt, allerdings auf das Führen eines Kraftfahrzeugs verzichten. Die Regelung des § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO kann sie daher mittelbar in ihrer Religionsausübung beeinträchtigen.

Zwar enthält Art. 4 Abs. 1 u. 2 GG keinen Gesetzesvorbehalt, so dass sich Einschränkungen aus der Verfassung selbst ergeben müssen. Zu solchen verfassungsimmanenten Schranken zählen indes die Grundrechte Dritter und Gemeinschaftswerte von Verfassungsrang (vgl. statt aller: BVerfG NJW 2020, 1049, 1051 m.w.N.). Die Sicherheit des Straßenverkehrs stell...

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