Entscheidungsstichwort (Thema)

Anforderungen an die Bejahung grober Fahrlässigkeit beim Abkommen von der Fahrbahn infolge ungeklärter Ursache

 

Leitsatz (amtlich)

Für die Annahme eines grob fahrlässigen Verhaltens bedarf es nach höchstrichterlicher Rechtsprechung auch der Feststellung eines in subjektiver Hinsicht nicht entschuldbaren Verstoßes gegen die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt. Ein Sekundenschlaf kann "einfach fahrlässig" nicht vorhergesehen werden, weil objektiv vorhandene Übermüdungserscheinungen subjektiv nicht wahrgenommen werden. Es wäre nicht völlig unentschuldbar, wenn der Beklagte auf die Gegenfahr-bahn geraten ist, weil er bei Dunkelheit und Nebel infolge einer Fahrbahnsenke die Lichter aus dem Gegenverkehr und die Rückleuchten der ihm vorausfahrenden Fahrzeuge aus den Augen verloren hätte und deswegen kurzzeitig orientierungslos gewesen wäre.

 

Normenkette

SGB VII § 110 Abs. 1 S. 1; StVO § 3 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LG Lüneburg (Urteil vom 17.12.2019; Aktenzeichen 9 O 86/19)

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das am 17. Dezember 2019 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 9. Zivilkammer des Landgerichts Lüneburg ≪9 O 86/19 ≫ wird zurückgewiesen.

Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

Das Urteil und das vorgenannte Urteil des Landgerichts Lüneburg sind vorläufig vollstreckbar. Der Klägerin bleibt nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % der für den Beklagten aufgrund der Urteile vollstreckbaren Beträge abzuwenden, sofern dieser nicht vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 26.596,09 EUR festgesetzt.

 

Gründe

I. Gegenstand des Rechtsstreits ist ein Verkehrsunfall vom 14. März 2016 gegen 4:45 Uhr auf der B 216 außerorts von ... B. in Höhe Abschnitt 50, Station 0,6, bei dem zwei Beifahrer des Beklagten in dem von ihm gesteuerten Pritschenwagen der Fa. F. V. KG, WL-V 132, tödlich verletzt und er selbst sowie der weitere Mitfahrer Herr R. K. schwer verletzt worden sind. Die Klägerin klagt als Trägerin der gesetzlichen Unfallversicherung aus § 110 SGB VII wegen für Herrn R. K. erbrachter Aufwendungen in Höhe von 16.596,09 EUR (Heilbehandlungs-, Fahrt- und Verwaltungskosten, Verletztengeld und Hilfsmittel), wobei weitere Leistungen seitens der Klägerin zu erwarten sind.

Der Pritschenwagen war bei der V. AG haftpflichtversichert. Diese und die Klägerin streiten über die Frage, ob der Unfall auf einem grob fahrlässigen Verhalten des Beklagten beruht. Der Beklagte ist vom Amtsgericht Lüneburg am 24. April 2017 rechtskräftig wegen fahrlässiger Tötung in zwei Fällen in Tateinheit mit fahrlässiger Straßenverkehrsgefährdung und mit fahrlässiger Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten mit Strafaussetzung zur Bewährung und zu einem zweimonatigen Fahrverbot verurteilt worden. Das Urteil enthält keine Erklärung zum Grad des Fahrlässigkeitsvorwurfs. Der Beklagte war bei Nebel mit einer Geschwindigkeit von ca. 75 km/h von der gerade verlaufenden Fahrbahn abgekommen, in den Gegenverkehr geraten und dort frontal mit einem ihm entgegenkommenden Sattelzug, ...-... 6..., kollidiert, dessen Fahrer - der Zeuge B. - den Unfall unstreitig nicht hatte vermeiden können.

Die Klägerin hat dem Beklagten vorgeworfen, grob fahrlässig gehandelt zu haben, weil er bei einer Sichtweite von maximal 20 m mit unangemessener, erheblich überhöhter Geschwindigkeit gefahren sei bzw. sehr wahrscheinlich in einen Sekundenschlaf gefallen sei, wobei er vorherige Anzeichen für seine Übermüdung ignoriert gehabt habe. Der Beklagte hat dies bestritten und sein Verschulden als fahrlässig eingestuft. Die Klägerin habe lediglich Spekulationen im Ermittlungsverfahren aufgegriffen, die nicht bewiesen seien. Er sei es gewohnt gewesen, früh aufzustehen und habe ausreichend lang geschlafen gehabt. Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Tatbestand der angefochtenen Entscheidung (Bl. 203R - 204R d. A.).

Mit Versäumnisurteil im schriftlichen Verfahren vom 11. Juli 2019 hat die Einzelrichterin der 9. Zivilkammer der Klage zunächst stattgegeben. Auf den Einspruch des Beklagten hat sie am 12. November 2019 mündlich verhandelt und den Beklagten informatorisch zum Unfallhergang angehört sowie die Zeugen Bi. und B. vernommen (Bl. 173 - 179 d. A.). Mit Urteil vom 17. Dezember 2019 (Bl. 203 - 207 d. A.) hat die Einzelrichterin das Versäumnisurteil vom 11. Juli 2019 aufgehoben und die Klage abgewiesen. Eine grob fahrlässige Unfallverursachung durch den Beklagten sei nicht bewiesen. Nach den Bekundungen der Zeugen Bi. und B. habe die Sichtweite bei 100 bis 200 m betragen. Die entgegenstehenden Angaben des Beklagten seien erklärbar mit einer Fahrbahnsenke, durch die der Zeuge B. den Sattelzug gesteuert gehabt habe, und derentwegen der Beklagte den Lastwagen erst sehr spät wahrgenomme...

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