Leitsatz (amtlich)

1. § 108 SGB VII dient dazu, divergierende Beurteilungen der Zivil- und der Sozialgerichtsbarkeit zu vermeiden und eine einheitliche Bewertung der unfallversicherungsrechtlichen Kriterien zu gewährleisten.

2. § 108 SGB VII setzt der Sachprüfung der Zivilgerichte von Amts wegen zu beachtende Grenzen, soweit Ersatzansprüche der in §§ 104 - 107 SGB VII genannten Art infrage stehen.

3. Soweit die Zivilgerichte nach § 108 Abs. 1 SGB VII gebunden sind, haben sie Feststellungen zu den dort genannten Fragen nicht zu treffen, sondern nur zu prüfen, ob und ggf. mit welchen Inhalt darüber im sozialrechtlichen Verfahren unanfechtbar entschieden wurde.

4. Fehlt es an einer unanfechtbaren Entscheidung im sozialgerichtlichen Verfahren, sind die Zivilgerichte grundsätzlich an einer eigenen Entscheidung gehindert, bis eine solche Entscheidung ergangen und unanfechtbar geworden ist. Bis dahin haben sie ihr Verfahren nach § 108 Abs. 2 S. 1 SGB VII auszusetzen.

5. Ein Aussetzungsgrund dürfte schon dann zu bejahen sein, wenn lediglich Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Versicherungsfalles der gesetzlichen Unfallversicherung bestehen. Nur wenn ein dem deutschen Sozialversicherungsrecht unterliegender Versicherungsfall von vornherein mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann oder feststeht, dass eine Entscheidung im sozialgerichtlichen Verfahren nicht ergehen wird, bedarf es keiner Aussetzung.

6. Wenn ein sozialrechtliches Verfahren noch nicht eingeleitet ist, darf die Entscheidung der Zivilgerichte nur dahin gehen, eine Frist zu bestimmen, nach deren Ablauf die Aufnahme des ausgesetzten Verfahrens zulässig ist. Die zu setzende Frist bezieht sich insoweit nur auf die Verfahrenseinleitung, nicht hingegen auf die Beendigung des Verfahrens.

7. Zur Zulässigkeit einer Untätigkeitsbeschwerde.

 

Normenkette

SGB VII § 108

 

Verfahrensgang

LG Hannover (Beschluss vom 16.12.2009; Aktenzeichen 13 O 363/07)

 

Tenor

1.a) Auf die sofortige Beschwerde des Klägers vom 6.1.2010 gegen den Beschluss der 13. Zivilkammer des LG Hannover vom 16.12.2009 wird der angefochtene Beschluss aufgehoben.

b) Insoweit wird dem Kläger auf seinen Antrag Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung von Rechtsanwältin ... aus ... zur Vertretung im Beschwerdeverfahren bewilligt. Auf den anliegenden Hinweis wird Bezug genommen.

c) Die mit der Beschwerde verbundenen weiteren Anträge des Klägers, die Vollziehung der angefochtenen Entscheidung vom 16.12.2009 auszusetzen und dem LG aufzugeben, unverzüglich über die Frage der Anwendbarkeit deutschen oder holländischen Sozialrechts Beweis zu erheben, werden zurückgewiesen; das auch diese Anträge umfassende Begehren auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

2. Die ebenfalls mit Schriftsatz vom 6.1.2010 gestellten Anträge des Klägers, ihm Prozesskostenhilfe für eine von ihm beabsichtigte Ausnahmebeschwerde wegen greifbarer Gesetzwidrigkeiten und für eine Untätigkeitsbeschwerde zu bewilligen, werden zurückgewiesen.

3. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.

 

Gründe

A. Mit seiner im ersten Rechtszug beim LG Hannover anhängigen Klage nimmt der Kläger die Beklagten als Gesamtschuldner auf Zahlung von Schadensersatz (insbesondere Schmerzensgeld) für einen schweren Verkehrsunfall in Anspruch, der sich am 22.8.2006 auf der Autobahn in Belgien in Fahrtrichtung Brüssel ereignet hat. Der Beklagte zu 1 war Fahrer und Halter des bei der Beklagten zu 2 versicherten Pkw; der Kläger war Insasse, wurde bei dem Unfall aus dem sich überschlagenden Fahrzeug geschleudert und schwer verletzt. Der Beklagte zu 1 war zum Zeitpunkt des Unfalls alkoholisiert.

Sowohl der Kläger als auch der Beklagte zu 1 hatten zum Zeitpunkt des Unfalls ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland. Beide waren zum Unfallzeitpunkt bei dem Unternehmen B. mit Sitz in den Niederlanden angestellt, mit dem sie einen im Wesentlichen gleichlautenden Zeitarbeitsvertrag mit Vermittlungsklausel geschlossen hatten. Danach wurde der jeweilige Arbeitnehmer von seinem Arbeitgeber im Rahmen der Ausübung des Berufs des Arbeitgebers einem Dritten zur Verfügung gestellt, um kraft eines von diesem Dritten dem Arbeitgeber erteilten Auftrags Arbeit unter der Aufsicht und der Leitung des Dritten durchzuführen, wobei der Arbeitnehmer ohne ausdrückliche anderslautende Bestimmung als abwechselnden Arbeitsplatz den Standort des Auftraggebers - also des Dritten - haben sollte. Das Arbeitsverhältnis des Klägers hatte zum 18.5.2005, dasjenige des Beklagten zu 1 zum 19.6.2006 begonnen (vgl. Bl. 87 ff. und 101 ff. d.A.). Beide Parteien hatten in der Nacht vor dem Unfall in einer vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellten Sammelunterkunft übernachtet. Sie arbeiteten in der Zeit unmittelbar vor dem Unfall gemeinsam auf einer Baustelle in Belgien.

Die Beklagten machen geltend, ihre Haftung sei gem. § 105 Abs. 1 S. 1 SGB VII i.V.m. § 8 Abs. 1 SGB VII ausgeschlossen. Es sei im vorliegenden Fall deutsches Sozialversicherungsrecht anwendbar. Der Haft...

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