Entscheidungsstichwort (Thema)

Mitverschulden eines Patienten bei Arzthaftung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ist ein Arzt wegen eines Behandlungsfehlers zum Schadensersatz ver-pflichtet, ist es ihm zwar nicht grundsätzlich verwehrt, sich auf ein Mitver-schulden des Patienten zu berufen. Bei der Bejahung mitverschuldensbe-gründender Obliegenheitsverletzungen des Patienten ist allerdings Zurück-haltung geboten (BGH, Urt. v. 17.12.1996 - VI ZR 133/95, juris-Rn. 13).

2. Im Allgemeinen obliegt es zwar dem Patienten, grundsätzlich einen Arzt aufzusuchen, wenn eine Verschlechterung seines Gesundheitszustandes dies nahelegt (vgl. OLG München vom 23.09.2004 - 1 U 5198/03, juris-Rn. 83). Es hängt indes von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab, wann die Nicht-Konsultation eines Arztes diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eige-nen Schadens anzuwenden pflegt.

3. Treten bei dem Patienten erneut Symptome (hier: Darmblutungen) auf, für die aufgrund der vorangegangenen, auf unzureichender Befunderhebung basierenden Diagnose des Arztes dem Patienten Erklärungen (hier: Hämor-rhoiden und Analfissur) genannt wurden, die keine zeitnahe Wiedervorstel-lung nahelegen, so stellt es keinen ein Mitverschulden begründenden Sorg-faltsverstoß dar, wenn sich der Patient beim Wiederauftreten der Sympto-me nicht sofort wieder in Behandlung begibt. Vielmehr darf insoweit der Patient zumindest eine Zeit lang darauf vertrauen, dass keine ernsthafte Erkrankung (hier: Darmkrebs) vorliegt.

4. Ist einem Arzt durch schuldhaftes Unterlassen der gebotenen Befunderhe-bung nach dem Grundsatz des groben Behandlungsfehlers zuzurechnen, dass eine an Darmkrebs erkrankte 47-jährige Patientin nach 4 1/2 Jahren Überlebenszeit mit zahlreichen belastenden Therapien und Operationen verstorben ist, indem ihr die Chance auf eine zeitgerechte, weniger invasive Behandlung von 4-5 Monaten mit vollständiger Genesung genommen wur-de, so ist die Zuerkennung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 70.000,00 EUR angemessen und keinesfalls überhöht.

 

Normenkette

BGB §§ 253-254, 280 Abs. 1, § 630h Abs. 5, § 823 Abs. 1

 

Tenor

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 12. November 2015 - 4 O 3112/11 - wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

Dieses und das vorbezeichnete Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 12. November 2015 - 4 O 3112/11 - sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, sofern nicht die Klägerinnen vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.

Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf die Wertstufe bis 125.000 EUR festgesetzt.

 

Gründe

I. Die Klägerinnen machen als Erbinnen nach der verstorbenen, ehemaligen Klägerin M. F. (nachfolgend: Erblasserin) gegen den Beklagten als behandelnden Arzt Schmerzensgeld- und Schadensersatzansprüche wegen eines behaupteten Befunderhebungsfehlers im Zusammenhang mit einer Behandlung der Erblasserin ab dem 31.08.2007 geltend.

Die Erblasserin stellte sich nach Überweisung des Internisten Dr. S. am 31.08.2007 wegen zum Teil spritzender Blutungen aus dem Anus beim Beklagten vor, der Hämorrhoiden und eine Analfissur diagnostizierte und behandelte. Eine erneute Vorstellung erfolgte am 09.10.2007. Eine Darmspiegelung (Koloskopie) oder eine Mastdarmspiegelung (Rektoskopie) wurden von dem Beklagten nicht veranlasst. Auf das Schreiben vom 11.10.2007 an den überweisenden Arzt Dr. S. (Bl. 152 d. A.), in dem der Beklagte mitteilte, dass bei Beschwerdefreiheit zunächst keine weiteren Sitzungen geplant seien und eine ergänzende hohe Koloskopie nicht zwingend erforderlich sei, wird Bezug genommen.

Vom 13.05.2008 bis zum 15.05.2008 befand sich die Erblasserin in stationärer Behandlung im Klinikum L.. Das Klinikum L. diagnostizierte Darmkrebs bei der Erblasserin, der bereits in die Leber metastasiert hatte. Im vorläufigen Entlassungsbrief vom 15.05.2008 (vgl. Anlage K1, K27, Bl. 13-15) heißt es zur Anamnese und zum Aufnahmegrund: "Die Patientin berichtet von seit ca. 6 Monaten bestehenden Diarrhoen (ca. 6 bis 7 Mal täglich) mit hellroten Blutauflagerungen sowie ausgeprägtem Meteorismus. Darüber hinaus habe sie eine zunehmende Müdigkeit und Schlappheit seit ca. 6 Monaten bemerkt." Die Erblasserin musste sich in der Folgezeit zahlreichen Behandlungen (u.a. Operationen, mehreren Chemotherapien) unterziehen.

Die Erblasserin nahm wegen der unterbliebenen Darmspiegelung einen groben Behandlungsfehler des Beklagten an und behauptete, dass bei Durchführung der Darmspiegelung der Tumor früher erkannt und seine Vergrößerung sowie die Metastasenbildung verhindert worden wären. Nach erfolgloser außergerichtlicher Aufforderung hat sie im Dezember 2011 Klage erhoben. Am 13.12.2012 verstarb die Erblasserin an den Folgen ihrer Krebserkrankung. Sie ist von den ...

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