Entscheidungsstichwort (Thema)

Strafverfahren: Akteneinsichtsrecht des Verletzten in einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation

 

Leitsatz (amtlich)

1. Das Recht auf Einsicht in die Verfahrensakten kann dem Verletzten auch dann uneingeschränkt zustehen, wenn seine Angaben zum Kerngeschehen von der Einlassung des Angeklagten abweichen und eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation vorliegt.

2. Der Gefahr der Beeinträchtigung des Untersuchungszwecks (§ 406e Abs. 2 Satz 2 StPO - hier durch Erschweren der Beweiswürdigung) kann dadurch begegnet werden, dass der Verfahrensbevollmächtigte des Verletzten zusichert, die Akten an den Verletzten nicht weiterzugeben.

 

Normenkette

StPO § 406e Abs. 1, 2 S. 2

 

Tenor

Auf die Beschwerden der Staatsanwaltschaft G. und der Nebenklägerin wird die Verfügung des Vorsitzenden der 9. Großen Strafkammer vom 20. Oktober 2015 aufgehoben und dem Beistand der Nebenklägerin umfassende Akteneinsicht gewährt.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen der Nebenklägerin werden der Landeskasse auferlegt.

 

Gründe

I.

Dem Angeschuldigten wird mit Anklageschrift der Staatsanwaltschaft G. vom 11. August 2015 vorgeworfen, als Heranwachsender in Dransfeld am 17. März 2015 eine Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zum Nachteil der Nebenklägerin begangen zu haben. Letztere hat am 21. August 2015 ihren Anschluss als Nebenklägerin erklärt und ihr Beistand Akteneinsicht beantragt. Die begehrte Akteneinsicht hat der Strafkammervorsitzende durch Entscheidung vom 20. Oktober 2015 insoweit gewährt, als es Band II der Akten mit Ausnahme von Blatt 39 und 39R betraf, und im Übrigen unter Hinweis auf die anderenfalls bestehende Gefahr für den Untersuchungszweck nach § 406e Abs. 2 S. 2 StPO abgelehnt. Hiergegen wenden sich sowohl die Nebenklägerin mit Beschwerdeschriftsatz ihres Beistandes vom 29. Oktober 2015 als auch die Staatsanwaltschaft mit Schriftsatz vom 22. Oktober 2015, mit denen sie jeweils die Gewährung einer umfassenden Akteneinsicht an den Beistand der Nebenklägerin erstreben. Der Strafkammervorsitzende hat den Rechtsmitteln der beiden Vorgenannten nicht abgeholfen und die Sache dem Senat zur weiteren Entscheidung vorgelegt. Die Generalsstaatsanwaltschaft hat in ihrer Stellungnahme vom 05. November 2015 beantragt, die angegriffene Entscheidung des Strafkammervorsitzenden aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung über das Akteneinsichtsgesuch an diesen zurückzuverweisen.

II.

1. Die Beschwerde ist zulässig, insbesondere gemäß §§ 406e Abs. 4 S. 4, 304 StPO - die Staatsanwaltschaft hat die Ermittlungen abgeschlossen und Anklage erhoben - statthaft (vgl. hierzu auch OLG Naumburg, Beschluss vom 05. Februar 2010 - 1 Ws 44 und 45/10, juris, Rn. 7 ff.).

2. Sie hat auch in der Sache Erfolg. Der Beistand der Nebenklägerin hat vorliegend gemäß § 406e Abs.1 StPO einen Anspruch auf umfassende Einsicht in die Verfahrensakten. Ein Versagungsgrund, insbesondere ein solcher nach § 406e Abs. 2 S. 2 StPO, besteht nicht. Nach dieser Vorschrift kann die Akteneinsicht des Berechtigten versagt werden, soweit der Untersuchungszweck gefährdet erscheint.

a) Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Norm sind erfüllt. Der Untersuchungszweck im Sinne des gesetzlichen Versagungsgrundes des § 406e Abs. 2 S. 2 StPO, der sich als Erforschung der Wahrheit (mit den von der Strafprozessordnung zur Verfügung gestellten Mitteln) definieren lässt, ist gefährdet, wenn die Kenntnis des Verletzten vom Akteninhalt die Zuverlässigkeit und den Wahrheitsgehalt einer von ihm noch zu erwartenden Zeugenaussage beeinträchtigen könnte (vgl. Bt-Drs. 10/5305, S. 18). Dabei wird - wie der Wortlaut der Norm "erscheint" verdeutlicht - eine konkrete Gefahr für den Untersuchungszweck nicht vorausgesetzt.

Mit dem Vorsitzenden des Landgerichts und der von ihm zitierten Auffassung des Oberlandesgerichts Hamburg (NStZ 2015, 105 und Beschluss vom 22. Juli 2015 - 1 Ws 88/15), geht auch der Senat im Ansatz davon aus, dass in Beweiskonstellationen, in denen die Tatschilderung des Verletzten und des Angeklagten - jedenfalls wenn es das Kerngeschehen betrifft - entscheidend voneinander abweichen, ohne dass ergänzend auf weitere unmittelbar tatbezogene Beweismittel (z.B. Zeugenaussagen über Geräusche oder Verletzungsbilder) zurückgegriffen werden kann, eine über seinen Beistand vermittelte (umfassende) Akteneinsicht des Verletzten in dem hier in Rede stehenden Verfahrensstadium eine Gefahr im dargestellten Sinn begründen kann, dass die gerichtliche Sachaufklärung beeinträchtigt wird. Kennt der Verletzte den Akteninhalt und damit auch seine im Laufe des Ermittlungsverfahrens gemachten Aussagen, wirkt sich dies auf die Bewertbarkeit seiner Aussagekonstanz aus. Damit ist dem Tatrichter, der nicht mehr ausschließen kann, dass eine im Vergleich der Angaben des Verletzten festgestellte Konstanz zuvorderst aus der Akteneinsicht resultiert, der Zugang zu einem wesentlichen Element der Aussageanalyse versperrt (vgl...

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