Leitsatz (amtlich)

1. Auch (Zwangs-)Maßnahmen wie die medikamentöse Sedierung oder mechanische Fixierung (Eingitterung, Bauchgurt, Handfesseln usw.), die im Rahmen einer ärztlichen (hier intensivmedizinischen) Heilbehandlung ohne wirksame Einwilligung des Patienten erfolgt sind, lösen die Haftung der Behandlungsseite grundsätzlich nur dann aus, wenn diese Eingriffe zu (irgend)einer gesundheitlichen Beeinträchtigung des Patienten geführt haben (im Anschluss an BGHZ 176, 342, dort Rz. 19, 20).

2. Maßnahmen dieser Art haben von vorneherein keinen freiheitsentziehenden Charakter (also weder nach dem tatbestandlichen Schutzzweck des § 239 Abs. 1 StGB bzw. des § 823 Abs. 1 BGB noch i.S.d. § 1906 Abs. 4 BGB), solange sich der in einem nicht ansprechbaren und lebensbedrohlichen Zustand eingelieferte Patient in einem künstlichen Koma befindet.

3. Zum Eingreifen der Rechtfertigungsgründe der mutmaßlichen Einwilligung bzw. des rechtfertigenden Notstandes (§ 34 StGB) bei einer solchen Fallgestaltung, wenn die ruhigstellenden Maßnahmen nach der Beendigung des künstlichen Komas - mit Unterbrechungen - bis zur Beendigung der intensivmedizinischen Behandlung fortgeführt werden.

4. Die Bewahrung eines Patienten vor Selbstschädigungen und insbesondere vor selbstschädigenden Eingriffen in den Behandlungsablauf selbst gehört (jedenfalls) im Rahmen einer intensivmedizinischen Versorgung auch in einer nichtpsychiatrischen Einrichtung zum Behandlungs- und Pflegestandard. Hierbei hängt die Rechtmäßigkeit der von den Pflegekräften einer Intensivstation getroffenen mechanischen Sicherungsvorkehrungen nicht davon ab, dass diese Maßnahmen von der Arztseite im Nachhinein (unverzüglich) genehmigt wurden (Abgrenzung zu OLG Köln VersR 1993, 1487 = MdR 1993, 235).

5. Zu den sachlichen Voraussetzungen einer Eilanordnung des Betreuungsgerichts nach §§ 1846, 1908i Abs. 1, Satz 1 i.V.m. § 1906 Abs. 4 BGB in einem solchen Fall.

6. Dem Merkmal einer "längeren Dauer" i.S.d. des § 1906 Abs. 4 BGB unterfallen grundsätzlich nur solche freiheitsentziehenden Eingriffe, die aller Voraussicht nach eine Gesamtdauer von drei Tagen überschreiten werden.

 

Normenkette

BGB § 823 Abs. 1-2, § 1846 Abs. 1-2, § 1908i Abs. 1 S. 1, § 1906 Abs. 4; StGB §§ 34, 239 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LG Bayreuth (Urteil vom 15.03.2011)

 

Tenor

I. Auf die Berufungen der Parteien wird das Endurteil des LG Bayreuth vom 15.3.2011 abgeändert und wie folgt neu gefasst:

1. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 9.126,80 EUR zzgl. Zinsen hieraus i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 7.10.2008 sowie 19 EUR Mahnauslagen und weitere 347,30 EUR (Inkassogebühren) zu zahlen.

2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen:

II. Die weitergehenden Berufungen der Parteien werden jeweils zurückgewiesen.

III. Der Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits in beiden Instanzen zu tragen.

IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

V. Die Revision wird nicht zugelassen.

VI. Berufungsstreitwert: 18.253,60 EUR.

 

Gründe

Der klagende Klinikträger und der verklagte Patient streiten um wechselseitige Ansprüche aus einer stationären Behandlung des Beklagten vom 8. bis zum 18.6.2008.

Der Beklagte war am Aufnahmetag als Notfall (mit künstlicher Beatmung nach einem schweren Asthmaanfall) in das Klinikum eingeliefert und zunächst bis zum 13.6.2008 vormittags auf der Intensivstation behandelt worden. Wie inzwischen außer Streit steht (und der Beklagtenvertreter in der Verhandlung vor dem Senat auch ausdrücklich eingeräumt hat), hatte sich der Beklagte bei seiner Aufnahme in einem lebensbedrohlichen Zustand (Bronchialasthma mit akuter Bronchitis sowie einer begleitenden Herzinsuffizienz und einem Lungenödem) befunden und war er deshalb im Rahmen der Intensivtherapie bis zum 10.8.2008 weiter künstlich beatmet worden.

Da der Beklagte auch nach der Beendigung des künstlichen Komas immer wieder durch aggressives Verhalten und sonstige Anzeichen einer starken Unruhe auffiel, war er bis zu seiner Verlegung auf die Normalstation nicht nur (weiterhin) medikamentös sediert, sondern zeitweise mit einem Bauchgurt sowie an beiden Händen fixiert worden. Zu diesen (die durchgehende Absicherung durch ein Bettgitter ergänzenden) Maßnahmen heißt es in den Verlaufsberichten des Pflegepersonals auszugsweise

  • in der Dokumentation vom 9.6.2008:

    "bei Pflege massive Abwehrreaktion ..."

  • in den Einträgen vom 10.6.2008:

    "heftige Abwehr bei pfleg. Maßnahmen ...

    seit 17.00 Uhr bettflüchtig, 1 × vor dem Bett gestanden z.T. aggressiv, versucht sich alle Ableitungen zu ziehen, Bauchgurt und Händefixierung beidseits notwendig ..."

  • in den Pflegeberichten vom 11.6.2008:

    "Pat. weiterhin fixiert, wirkt aggressiv, bäumt sich im Bett auf und schimpft viel - unruhig ...

    seit 18.00 Uhr desorientiert, aggressiv, mehrmals Braunüle gezogen, auch am DK gezogen, seither Urin blutig ..."

  • in den Einträgen vom 12.6.2008:

    "Pat. weiterhin aggressiv, versucht mit den Beinen zu treten ..."

  • und zuletzt in den Aufzeichnungen unter dem "13.6.2008" (Anm. d. Senats: Die Datumsangabe "13...

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