Entscheidungsstichwort (Thema)

Absehen von Fahrverbot wegen befürchteter Ertragseinbußen?

 

Leitsatz (amtlich)

1. Macht der Betroffene mit Blick auf ein bußgeldrechtliches Fahrverbot geltend, aus gesundheitlichen Gründen (hier: sog. Reisekrankheit) weder Mitfahrmöglichkeiten als Bei- oder Mitfahrer noch öffentliche Verkehrsmittel nutzen zu können, sondern auf die Nutzung eines Kraftfahrzeugs als dessen Fahrer angewiesen zu sein, darf sich das Tatgericht im Rahmen seiner Beweiswürdigung auch dann nicht mit einer einseitig unkritischen Würdigung der Betroffeneneinlassung begnügen, wenn die geltend gemachte Krankheit zwar ärztlich bescheinigt ist, aus der Bescheinigung aber nicht hervorgeht, aufgrund welcher objektiv-wissenschaftlichen Standards die ihr zugrunde gelegten Befunde festgestellt worden sind. Diese Umstände sind im Urteil derart darzulegen, dass dem Rechtsbeschwerdegericht eine Nachprüfung ermöglicht ist.

2. Ein Absehen von einem wegen eines groben Pflichtenverstoßes an sich verwirkten Regelfahrverbot unter Berufung auf das rechtsstaatliche Übermaßverbot ist nicht schon dann gerechtfertigt, wenn die besondere Härte lediglich mit erwarteten erheblichen Ertrags- oder Gewinneinbußen begründet wird, wenn nicht zugleich konkret aufgezeigt ist, dass diese mit einer drohenden Existenzgefährdung einhergehen. Denn nur dann ist das Tatgericht gehalten, entsprechenden Behauptungen des Betroffenen im Rahmen seiner Amtsaufklärungspflicht weiter nachzugehen.

 

Normenkette

StVG § 25 Abs. 1 S. 1 Alt. 1; StVO § 3 Abs. 3 Nr. 1; BKatV § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 1; StPO § 244 Abs. 2; OWiG § 79 Abs. 1 S. 1 Nr. 3; StVG § 25 Abs. 2a, § 26a; StVO § 49 Abs. 1 Nr. 3; StPO § 261; OWiG § 79 Abs. 6

 

Tatbestand

Das AG hat den Betr. wegen fahrlässigen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um 40 km/h innerhalb geschlossener Ortschaft (§§ 3 III Nr. 1 StVO i.V.m. 49 I Nr. 3 StVO) zu einer Geldbuße von 320 Euro verurteilt; von der Verhängung des im Bußgeldbescheid neben einer Geldbuße in gleicher Höhe vorgesehenen Fahrverbots hat es demgegenüber abgesehen. Auf die gegen das Urteil eingelegte, mit der Rüge der Verletzung materiellen Rechts begründete und sogleich auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten Rechtsbeschwerde der StA hat das OLG den Rechtsfolgenausspruch zum Nachteil des Betr. dahin abgeändert, dass es gegen ihn neben einer Geldbuße von 160 Euro ein einmonatiges Fahrverbot angeordnet hat.

 

Entscheidungsgründe

I. Die gemäß § 79 I 1 Nr. 3 OWiG statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde der StA, die bereits mit ihrer Einlegung wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt wurde, ist begründet.

1. Aufgrund der Feststellungen des AG kam gemäß § 4 I 1 Nr. 1 BKatV i.V.m. lfd.Nr. 11.3.6 der Anl. zu § 1 I BKatV die Anordnung eines Regelfahrverbots wegen grober Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers als Regelfall in Betracht. Dies hat das AG zwar nicht verkannt, jedoch von der Anordnung eines Fahrverbots bei gleichzeitiger Erhöhung des als Regelsatz vorgesehenen Bußgeldes von 160 Euro auf 320 Euro mit der Begründung abgesehen, der Betr., der als Kleinunternehmer - neben weiteren Kaufberatern - Kundenbesuche im gesamten Bundesland zu erledigen habe, habe mit erheblichen "Ertragseinbußen" zu rechnen, falls ein Fahrverbot für die Dauer 1 Monats vollzogen würde. Er erwarte für diesen Fall einen "wirtschaftlichen Schaden von ca. 40.000 bis 60.000 €". Seine Kundenbesuche könnten auch nicht von anderen Mitarbeitern wahrgenommen werden. Zum einen sei die personelle Situation ohnehin angespannt, zum anderen hätten diese keine Einsicht in die den Geschäften zugrunde liegenden Kalkulationsgrundlagen. Eine Anstellung eines Fahrers sei ebenfalls nicht möglich. Beim Betr. liege nämlich seit seiner Kindheit eine sog. Reisekrankheit vor, so dass er "als Beifahrer" unter massiver Übelkeit, auch in Form von Erbrechen, leide.

2. Diese Begründung, mit der das AG von der Verhängung eines Fahrverbots gegen den Betr. abgesehen hat, hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

a) Zwar folgt aus § 4 I 1 BKatV nicht, dass ausnahmslos ein Fahrverbot zu verhängen wäre. Vielmehr steht dem Tatrichter ein Ermessensspielraum zu, um Verstößen im Straßenverkehr mit der im Einzelfall angemessenen Sanktion zu begegnen (BVerfG NJW 1996, 1809). Die Frage, ob die Würdigung der Tat und der Persönlichkeit des Täters besondere Umstände ergibt, nach denen es ausnahmsweise der Warn- und Denkzettelfunktion eines Fahrverbots im Einzelfall nicht bedarf, liegt grundsätzlich in seinem Verantwortungsbereich. Der Tatrichter hat innerhalb des ihm eingeräumten Beurteilungsspielraums die Wertungen nach eigenem pflichtgemäßen Ermessen zu treffen. Seine Entscheidung kann vom Rechtsbeschwerdegericht deshalb nur daraufhin überprüft werden, ob er sein Ermessen fehlerhaft ausgeübt hat, weil er die anzuwendenden Rechtsbegriffe verkannt, die Grenzen des Ermessens durch unzulässige Erwägungen überschritten und sich nicht nach den Grundsätzen und Wertmaßstäben des Gesetzes ...

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