Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. Schädigung der Leibesfrucht durch Alkoholkonsum der Mutter. tätlicher Angriff. keine Einbeziehung des ungeborenen Lebens in den Schutzbereich des OEG. keine Haftung des Staates bei nicht von ihm zu vermeidenden Rechtsverletzungen

 

Leitsatz (amtlich)

1. Funktionseinschränkungen, die vorgeburtlich durch von der schwangeren Mutter aufgenommenen Alkohol entstanden sind (Alkoholembryopathie (AE) bzw Fetales Alkoholsyndrom (FAS)), begründen keinen nach § 1 Abs 1 OEG entschädigungspflichtigen Tatbestand.

2. Handlungen der schwangeren Mutter, die sich vorgeburtlich schädigend auf das Kind auswirken (hier: Aufnahme von Alkohol), erfüllen nicht den Tatbestand eines vorsätzlichen, tätlichen rechtswidrigen Angriffs gegen das ungeborene Kind iS von § 1 Abs 1 OEG.

3. Der Staat haftet im Rahmen des OEG nicht für Rechtsgutverletzungen, die er aus rechtlichen Gründen nicht verhindern kann (hier: fehlende Eingriffsmöglichkeiten gegen die straffreie Aufnahme von Alkohol durch die schwangere Mutter, auch wenn die Schädigung des ungeborenen Kindes absehbar ist).

 

Orientierungssatz

1. Die Rechtsprechung des BSG zur Schädigung des Nasciturus (vgl BSG vom 15.10.1963 - 11 RV 1292/61 = BSGE 20, 41 = SozR Nr 68 zu § 1 BVG und vom 16.4.2002 - B 9 VG 1/01 R = BSGE 89, 199 = SozR 3-3800 § 1 Nr 21) ist nicht auf einen Sachverhalt anwendbar, in dem die Mutter nicht Opfer einer Gewalttat, sondern eigenverantwortlich handelnde Person zum Nachteil ihres ungeborenen Kindes ist.

2. Eine über die Rechtsprechung des BSG hinausgehende erweiternde bzw analoge Anwendung des OEG kommt ebenfalls nicht in Betracht.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 24.09.2020; Aktenzeichen B 9 V 3/18 R)

 

Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Umstritten ist die Gewährung von Beschädigtenrente nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz - OEG).

Die 2005 geborene Klägerin beantragte am 18. Februar 2009, dabei vertreten durch das Jugendamt des Landkreises B., dem die Amtspflegschaft übertragen worden war, bei dem Beklagten die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG. Zur Begründung gab sie an, durch ein Alkohol-Syndrom der Mutter im Empfängniszeitraum vom 6. November 2004 bis 5. März 2005 geschädigt worden zu sein. Es bestehe ein globaler Entwicklungsrückstand, ein Mikrocephalus (Schädelfehlbildung in Form eines zu kleinen Kopfes) und ein fetales Alkohol-Syndrom. Täterin sei die 1968 geborene Mutter S. M., Tatort deren Wohnung in D. Im parallel geführten Schwerbehindertenverfahren stellte der Beklagte mit Bescheid vom 10. März 2009 aufgrund des am 1. Oktober 2008 gestellten Antrages der Klägerin bei dieser einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 ab 7. Oktober 2008 fest. Diese Entscheidung stützte er auf die Funktionsbeeinträchtigung "Globale Entwicklungsverzögerung bei Alkohol-Embryopathie". Mit Aktenvermerk vom 30. April 2009 hielten die zuständigen Mitarbeiter des Beklagten eine Prüfung des angeschuldigten Tatvorwurfs des Alkoholmissbrauchs der Mutter während der Schwangerschaft durch weitere Sachverhaltsermittlung für nicht erforderlich. Selbst wenn der Vorwurf zuträfe, handelte es sich bei einer Alkoholabhängigkeit um das Erscheinungsbild einer Erkrankung im Rahmen einer Suchterkrankung. Der Verzehr des Alkohols sei Ausdruck eines krankhaften Suchtverhaltens und sei ohne Vorsatz in fahrlässiger, leichtfertiger Weise erfolgt. Der Tatbestand eines vorsätzlichen tätlichen Angriffs i. S. des OEG sei damit nicht verwirklicht. Des Weiteren setze der Entschädigungsanspruch nach dem OEG den Angriff auf eine rechtsfähige natürliche Person voraus, was durch den Wortlaut im Gesetzestext "wer" zum Ausdruck gebracht werde. Eine natürliche Person sei ein Mensch, dessen Rechtsfähigkeit nach § 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) mit der Vollendung der Geburt beginnt. Das ungeborene Leben im Mutterleib erfülle die Voraussetzungen einer rechtsfähigen natürlichen Person noch nicht.

Mit Bescheid vom 30. April 2009 lehnte der Beklagte aus den vorgenannten Gründen die Beschädigtenversorgung nach dem OEG ab. Mit dem am 22. Mai 2009 eingelegten Widerspruch machte die Klägerin geltend, ihrer Ansicht nach seien die Voraussetzungen für eine Opferentschädigung gegeben. Der Anspruch scheitere nicht daran, dass das Kind erst nach dem schädigenden Ereignis auf die Welt gekommen sei. Dies sei nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) im "Lues-Fall" (Urteil vom 15.10.1963, Az. 11 RV 1292/61, BSGE 20, S. 41) sowie auch nach dem Urteil vom 16.04.2002, B 9 VG 1/01 R, juris = BSGE 89, S. 199) anerkannt. Bei Alkoholmissbrauch handele es sich um eine anerkannte Krankheit. Die Kindesmutter habe gewusst, welche gesundheitlichen Schäden für das ungeborene Kind durch Alkoholmissbrauch entstehen können. Zwei weitere ältere Kinder seien bereits verstorben, das zulet...

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