Entscheidungsstichwort (Thema)

sozialgerichtliches Verfahren. keine Zurückverweisung trotz Verfahrensmangels. Vorrang der Eingliederungshilfe vor Kinder- und Jugendhilfe nach § 10 Abs 4 S 2 SGB 8 nF. Inanspruchnahme des zuerst angegangenen Leistungsträgers

 

Orientierungssatz

1. Zur nicht erfolgten Zurückverweisung der angefochtenen Entscheidung trotz eines wesentlichen Verfahrensfehlers gem § 159 Abs 1 Nr 2 SGG (hier: Erlass eines Gerichtsbescheides gem § 105 Abs 1 S 1 SGG durch das Sozialgericht trotz besonderer Schwierigkeiten rechtlicher und tatsächlicher Art).

2. Die Vorrangigkeit der Sozialhilfeleistungen iS des § 10 Abs 2 SGB 8 aF bzw § 10 Abs 4 SGB 8 nF ist allein von der Art der mit einer Jugendhilfeleistung konkurrierenden Sozialhilfeleistung abhängig; bei Eingliederungshilfe ist die Sozialhilfe vorrangig, bei anderen Sozialhilfeleistungen ist die Jugendhilfe vorrangig; bei Abgrenzungsschwierigkeiten ist sowohl ein Rückgriff auf § 10 Abs 2 S 1 SGB 8 aF bzw § 10 Abs 4 S 1 SGB 8 nF als Grundsatzregelung als auch eine Differenzierung nach dem Schwerpunkt des Bedarfs oder des Leistungszwecks bzw -ziels nicht zulässig.

3. Die Regelung des § 10 Abs 2 S 2 SGB 8 aF bzw § 10 Abs 4 S 2 SGB 8 nF betrifft auch nicht nur das Konkurrenzverhältnis zwischen der jugendhilferechtlichen Eingliederungshilfe gem § 35a SGB 8 und der sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfe gem § 39 BSHG bzw § 53 SGB 12; durch die Formulierung der "Leistungen nach diesem Buch" sollen sämtliche jugendhilferechtlichen Maßnahmen nachrangig gegenüber Eingliederungshilfen des SGB 12 für junge behinderte Menschen sein.

4. Die Leistungen der Jugend- und Sozialhilfe iS des § 10 Abs 2 S 2 SGB 8 aF bzw § 10 Abs 4 S 2 SGB 8 nF müssen lediglich kongruent, nicht jedoch deckungsgleich sein, denn bei einander nur "überschneidend" gegenüberstehenden Maßnahmen sind die zu vergleichenden Leistungen gerade nicht gänzlich deckungsgleich.

5. Es stellt eine unzulässige Umgehung des § 10 Abs 2 S 2 SGB 8 aF bzw § 10 Abs 4 S 2 SGB 8 nF dar, wenn § 19 SGB 8 als speziellere Hilfeform wegen eines mit Schwangerschaft und Geburt in den Mittelpunkt rückenden Kindes und wegen der Einzelpersonenbezogenheit der Eingliederungshilfe nach BSHG bzw SGB 12 für einzig anwendbar gehalten und Betreuungsleistungen an der Mutter allein als im Dienst der Pflege und Erziehung des Kindes stehend angesehen werden (abweichend VG Düsseldorf vom 31.8.1997 - 19 K 4705/95 = ZFSH/SGB 1999, 84).

6. Es besteht keine Pflicht, allein den zuerst angegangenen Leistungsträger nach § 43 Abs 1 S 2 SGB 1 klageweise in Anspruch zu nehmen; es handelt sich insoweit um eine Schutzvorschrift, die in Anspruch genommen werden kann, aber nicht muss.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 24.03.2009; Aktenzeichen B 8 SO 29/07 R)

 

Tenor

Die Berufung des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Münster vom 01.02.2006 wird zurückgewiesen. Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten, ob die Beklagte Kosten für die Unterbringung der Klägerin in der Mutter-Kind-Einrichtung H-Heim in C tragen muss.

Die am 00.00.1985 geborene Klägerin leidet nach einem Gutachten vom 07.07.2004 der Psychiaterin und Psychotherapeutin Dr. N, F, das diese für das Amtsgericht Geilenkirchen im Rahmen eines Betreuungsverfahrens erstellt hat, an einer leichten geistigen Behinderung, welche eine ausreichende schulische Bildung i.S.v. Rechnen, Schreiben, Lesen lernen schon nicht mehr ermöglicht habe. Die Persönlichkeit der im Zeitpunkt der Begutachtung schwangeren Klägerin sei unausgereift, unstet, strukturschwach und abhängig. Infolge der geistigen Behinderung und der Persönlichkeitsunreife bedürfe sie der Hilfestellung durch einen Betreuer in diversen (im Gutachten näher bezeichneten) Lebensbereichen. Die Behinderung werde zeitlebens bestehen bleiben; bei ausreichender Kooperation könnte die Klägerin in einer Mutter-Kind-Wohngemeinschaft mit soziotherapeutischer Anleitung etwas nachreifen und alltagspraktische Kompetenzen entwickeln. Eine einfache Verständigung sei möglich, Geschäftsfähigkeit bestehe nur für Taschengeldgeschäfte.

Nach einem individuellen Hilfeplan des Beklagten vom 09.08.2004 kann die Klägerin u.a. einen Einkauf nicht planen und den Bedarf nicht überblicken. Sie kann nicht selbständig ausgewogene Mahlzeiten kochen, benötigt Aufforderung zur Ordnung im eigenen Bereich, muss Geld eingeteilt bekommen und kann komplexe Zusammenhänge nicht nachvollziehen. Sie hat Schwierigkeiten, ihre Freizeit zu gestalten, kann neue Strecken und Wege nicht selbständig erschließen, hat wenig Bezug zu realistischen Zielen und nur sehr unkonkrete Vorstellungen zu Zukunftsperspektiven und Lebensplanung, hat Schwierigkeiten, sich längere Abfolgen zu merken und zeitliche Zuordnungen zu treffen, benötigt mehrfache Wiederholungen, hat Schwierigkeiten, Monat oder Wochentag zu bestimmen, braucht Begleitung bei Ersterkundungen von neuen Orten, fühlt sich nicht behind...

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