Entscheidungsstichwort (Thema)

Voraussetzungen einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich einer versäumten Frist. Berufungsfrist. Zustellung bei Prozessunfähigkeit. Betreuer. Vermögenssorge. Merkzeichen „aG”. Heilung eines Zustellungsmangels

 

Orientierungssatz

1. Nach § 63 Abs. 2 S. 1 SGG i. V. m. § 170 Abs. 1 ZPO ist das Urteil bei einer nicht prozessfähigen Person deren gesetzlichem Vertreter zuzustellen. Eine Zustellung an die nicht prozessfähige Person ist unwirksam. Ist Betreuung angeordnet, so ist dem Betreuer zuzustellen.

2. Wird unzulässigerweise der nicht prozessfähigen Person zugestellt, so tritt nach § 189 ZPO eine Heilung des Zustellungsmangels dann ein, wenn das zuzustellende Schriftstück dem gesetzlichen Vertreter tatsächlich zugegangen ist.

3. Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich einer versäumten Berufungsfrist setzt voraus, dass der Betroffene ohne Verschulden i. S. von § 67 Abs. 1 SGG verhindert gewesen ist, die Berufungsfrist einzuhalten. Erforderlich hierzu ist, dass er das betreffende Schreiben wenigstens einen Tag vor Fristablauf zur Post gegeben hat. Er darf darauf vertrauen, dass die Post die normalen Postlaufzeiten einhält. Die Postunternehmen haben sicherzustellen, dass sie an Werktagen aufgegebene Inlandsendungen im ganzen Bundesgebiet im Jahresdurchschnitt mindestens zu 80 % am ersten Tag nach der Einlieferung ausliefern.

 

Normenkette

SGG § 63 Abs. 2 S. 1, § 67 Abs. 1, § 71 Abs. 6, § 151 Abs. 1; ZPO §§ 53, 170 Abs. 1, § 189; BGB §§ 1902, 1903 Abs. 3 S. 1

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 17.01.2014 wird als unzulässig verworfen.

Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten um das Vorliegen einer außergewöhnlichen Gehbehinderung (Merkzeichen "aG").

Bei dem am 00.00.1936 geborenen Kläger sind ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie die Merkzeichen "G", "B" und "RF" festgestellt. Er bezieht Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) und steht unter Betreuung (Beschluss des Amtsgerichts Aachen vom 04.04.2001). Zur Betreuerin ist die Klägervertreterin, Frau F, bestellt worden, die mit dem Kläger zusammenlebt. Der Aufgabenkreis der Betreuung umfasst die Vermögenssorge. Für entsprechende Willenserklärungen ist ein Einwilligungsvorbehalt vorgesehen.

Der Kläger beantragte bei der Beklagten am 28.12.2012 erfolglos die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" (ablehnender Bescheid der Beklagten vom 10.04.2013, Widerspruchsbescheid der Bezirksregierung Münster vom 12.07.2013).

Am 18.07.2013 hat der Kläger, vertreten durch seine Betreuerin, Klage beim Sozialgericht Aachen erhoben. Das Sozialgericht hat die Klage nach Einholung eines Befundberichtes der Orthopädin Dr. E mit Urteil vom 17.01.2014 abgewiesen, da die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" laut dem eingeholten Befundbericht nicht vorlägen.

Das Urteil, das an den Kläger adressiert gewesen ist, ist laut Postzustellungsurkunde am 15.02.2014 unter der Adresse des Klägers durch Übergabe an die Betreuerin zugestellt worden.

Der Kläger hat, vertreten durch die Betreuerin, mit Schriftsatz vom 14.03.2014 Berufung eingelegt. Der Berufungsschriftsatz ist zum einen per Einschreiben an das Sozialgericht Aachen versandt worden. Das Einschreiben trägt einen Poststempel vom 17.03.2014 und ist beim Sozialgericht am 18.03.2014 eingegangen. Der Berufungsschriftsatz ist zum anderen per Einschreiben an das erkennende Gericht versandt worden. Auch dieses Einschreiben trägt einen Poststempel vom 17.03.2014 und ist beim erkennenden Gericht am 19.03.2014 eingegangen.

Der Senat hat die Beteiligten mit Schreiben vom 25.03.2014 zu einer Verwerfung der Berufung als unzulässig im Beschlusswege wegen Versäumung der Berufungsfrist angehört.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte Bezug genommen.

II.

Der Senat macht nach entsprechendem Hinweis an die Beteiligten von der Möglichkeit des § 158 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Gebrauch, die Berufung im Beschlussverfahren als unzulässig zu verwerfen.

Die Berufung ist unzulässig, da die Berufungsfrist nicht eingehalten worden ist. Gemäß § 151 Abs. 1 SGG ist die Berufung innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen.

Das Urteil des Sozialgerichts wurde am 15.02.2014 zugestellt.

Die Zustellung richtet sich gemäß § 63 Abs. 2 Satz 1 SGG nach den Vorschriften der Zivilprozessordnung (ZPO). Gemäß § 170 Abs. 1 ZPO ist bei nicht prozessfähigen Personen an ihren gesetzlichen Vertreter zuzustellen. Die Zustellung an die nicht prozessfähige Person ist unwirksam. Eine wirksame Zustellung an den Kläger persönlich hat nicht erfolgen können. Dieser ist als prozessunfähig zu behandeln. Wird in einem Rechtsstreit eine prozessfähige Person durch einen Betreuer oder Pfleger vertreten, so steht sie für den Rechtsstreit einer nicht prozessfähigen Person gleich, § 71 Abs. 6 SGG i.V.m. § 53 ZPO. De...

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