Entscheidungsstichwort (Thema)

Fortführung eines durch nicht beschwerdefähige Entscheidung abgeschlossenen gerichtlichen Verfahrens bei Verletzung des rechtlichen Gehörs

 

Orientierungssatz

1. Auf die Rüge eines durch eine gerichtliche Entscheidung beschwerten Beteiligten ist das Verfahren nach § 178a Abs. 1 SGG fortzuführen, wenn ein Rechtsbehelf gegen die Entscheidung nicht gegeben ist und das Gericht den Anspruch des Beteiligten auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat.

2. Ein Verstoß gegen das Gebot des fairen Verfahrens liegt u. a. dann vor, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis Anforderungen an den Sachvortrag stellt oder auf rechtliche Gesichtspunkte abstellt, mit denen auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte.

3. Musste in einem Verfahren über die Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung dem Verfahrensbeteiligten aufgrund der Ermittlungstätigkeit des Gerichts ohne Weiteres bewusst sein, dass vom Gericht die Bedürftigkeit des Antragstellers keinesfalls als geklärt angesehen wurde, so liegt mit dessen ablehnender Entscheidung keine angreifbare Überraschungsentscheidung vor, welche auf einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör beruht.

 

Nachgehend

BVerfG (Beschluss vom 06.08.2014; Aktenzeichen 1 BvR 1453/12)

 

Tenor

Die Anhörungsrüge der Antragsteller gegen den unanfechtbaren Beschluss des Senats vom 21.05.2012 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Anhörungsrügeverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Die binnen der in § 178 a Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) genannten 2-Wochen-Frist erhobene Anhörungsrüge ist zulässig, aber nicht begründet.

Auf die Rüge eines durch eine gerichtliche Entscheidung beschwerten Beteiligten ist das Verfahren fortzuführen, wenn ein Rechtsbehelf gegen die Entscheidung nicht gegeben ist und das Gericht den Anspruch des Beteiligten auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat (§ 178 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 SGG).

Mit dem Beschluss vom 21.05.2012, bei dem es sich um eine im einstweiligen Rechtsschutzverfahren unanfechtbare Endentscheidung handelt, hat der Senat den Anspruch der Antragsteller auf rechtliches Gehör nicht in entscheidungserheblicher Weise verletzt. Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) garantiert den Verfahrensbeteiligten, dass sie Gelegenheit erhalten, sich vor Erlass einer gerichtlichen Entscheidung zu dem zugrundeliegenden Sachverhalt zu äußern und dadurch die Willensbildung des Gerichts zu beeinflussen. An einer solchen Gelegenheit fehlt es nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (siehe dazu den bereits von den Antragstellern zitierten Beschluss vom 14.10.2010 - 2 BvR 409/09 - m.w.N. aus der Rechtsprechung dieses Gerichts - zitiert nach JURIS) dann, wenn ein Beteiligter gar nicht zu Wort gekommen ist oder wenn das Gericht seiner Entscheidung Tatsachen zugrunde gelegt hat, zu denen die Beteiligten nicht Stellung nehmen konnten. Dies ist bereits dann der Fall, wenn ein Verfahrensbeteiligter auch bei Anwendung der von ihm zu verlangenden Sorgfalt nicht zu erkennen vermochte, auf welchen Tatsachenvortrag es für die Entscheidung - nach Auffassung des Gerichts - ankommt. Ein Verstoß gegen das Gebot des fairen Verfahrens liegt mithin auch dann vor, wenn ein Gericht ohne vorherigen Hinweis Anforderungen an den Sachvortrag stellt oder auf rechtliche Gesichtspunkte abstellt, mit denen auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte.

Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Die Antragsteller rügen zu Unrecht, es liege eine Überraschungsentscheidung vor, weil im bisherigen Verfahren weder von der Gegenseite noch vom Sozialgericht die fehlende Hilfebedürftigkeit festgestellt bzw. eingewandt worden sei und auch das Beschwerdegericht zu keinem Zeitpunkt auf Bedenken hinsichtlich dieser Voraussetzung für die Gewährung von Grundsicherungsleistungen hingewiesen habe. Bereits in den Verwaltungsakten der Antragsgegnerin befindet sich (worauf vom Senat schon im Beschluss vom 21.05.2012 hingewiesen wurde) eine "Berechnung der Einnahmen und Ausgaben zur vorläufigen Berechnung des Einkommens aus selbständiger Tätigkeit" vom 12.12.2011 in der von der Antragsgegnerin monatlich anzurechnendes Nettoeinkommen von 3417,08 Euro abzüglich eines errechneten Freibetrags von 330,00 Euro der Bedarfsgemeinschaft aufgrund der Angaben der Antragsteller ermittelt wurde. Auch wenn die Behörde ihre ablehnende Entscheidung nicht auf diesen Punkt gestützt hat und sich die angefochtenen Verwaltungsakte mithin dazu nicht verhalten, musste dem Bevollmächtigten der Antragsteller insbesondere aufgrund seiner Qualifikation als Fachanwalt für Sozialrecht schon wegen der ihm im Widerspruchsverfahren gewährten Akteneinsicht (siehe insoweit Blatt 82 der Verwaltungsakten) ohne weiteres bewusst sein, dass auch die finanziellen Verhältnisse der Antragsteller eine Leistungsablehn...

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