Entscheidungsstichwort (Thema)

Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben. Schwerhörigkeit. digitales Hörgerät. Leistungspflicht. Zuständigkeit

 

Orientierungssatz

1. Zur Zuständigkeit der Kostenübernahme eines digitalen Hörgerätes - hier bei einer stark Schwerhörigen, die als Fließband-Arbeiterin zur Bürokauffrau umgeschult wurde - durch die gesetzliche Renten- oder Krankenversicherung.

2. Wenn digitale Hörgeräte nicht nur allein und unmittelbar für die berufliche Tätigkeit, sondern auch allgemein im Alltag benötigt werden, so ist Kostenträgerin für die Hörgeräte die gesetzliche Krankenversicherung. Der Katalog der Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung erfasst deshalb auch die Ausstattung mit digitalen Hörgeräten, wenn diese geeignet und notwendig sind (vgl LSG Celle-Bremen vom 15.6.2005 - L 4 KR 147/03).

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 20.10.2009; Aktenzeichen B 5 R 5/07 R)

 

Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Kostenübernahme für digitale Hörgeräte.

Die im Jahre 1972 geborene Klägerin leidet - u. a. nach Hörstürzen in den Jahren 1992/93 (daneben sind auch die Eltern schwerhörig) - unter einer beidseitigen Schwerhörigkeit, inzwischen mit Tinnitus (anamnestisch seit 1999). Sie wurde daraufhin mit einem Hörgerät versorgt, jedoch nur rechtsseitig (anamnestisch aus finanziellen Gründen). Daneben wurden bei der Klägerin u. a. eine psychovegetative Dystonie (1999), ein Zustand nach Zwölffingerdarm-Geschwürsleiden sowie spondylogene Beschwerden der Wirbelsäule diagnostiziert. Ihr ist - nach eigenen Angaben - ein Grad der Behinderung (GdB) von 70 zuerkannt.

In beruflicher Hinsicht hatte die Klägerin zunächst eine Ausbildung zur Steuerfachgehilfin (1990-1993) sowie zur Diätassistentin durchlaufen (1995-1999), die jeweiligen Abschlussprüfungen jedoch nicht bestanden bzw. nicht angetreten - anamnestisch wegen Prüfungsängsten bzw. aufgrund hörbedingter Kommunikationsprobleme. Sodann war sie seit März 2001 - unter Bezuschussung durch die Bundesanstalt/Bundesagentur für Arbeit - als Fließband-Arbeiterin in einem Schlachthof (Geflügelschlachterei) tätig, nach eigenen Angaben aus finanziellen Gründen.

Im Mai 2001 durchlief die Klägerin eine von der Beklagten bewilligte stationäre medizinische Maßnahme zur Rehabilitation (Reha). Nach dem Reha-Entlassungsbericht vom 5. Juli 2001 waren bei der Klägerin die Diagnosen

- progrediente Schallempfindungsschwerhörigkeit bds. (z. Zt. mittelgradig) bei Z. n. Hörsturz 1992 u. 1993

- Tinnitus aurium

- ausgeprägte psychovegetative Labilität mit Versagensängsten bei unreifer Persönlichkeit

gestellt und die Klägerin für in der Lage gehalten worden, mindestens 6 Stunden täglich körperlich leichte bis mittelschwere Arbeiten, zeitweise im Gehen/Stehen, auch ständig im Sitzen, ohne häufiges Heben und Tragen schwerer Lasten oder ständiges Arbeiten in Zwangshaltungen, ohne Lärmbelastung sowie ohne erhöhte Anforderungen an das Hörvermögen zu verrichten. Der Bericht hatte im einzelnen ausgeführt, dass die Klägerin zwar ihre jetzige Tätigkeit in einer Geflügelschlachterei weiter ausüben könne. Jedoch sei die Versorgung mit besseren Hörgeräten zur "beruflichen Integration und Weiterqualifikation" unbedingt notwendig. Daneben sei der Klägerin durch Maßnahmen der Psychotherapie vermittelt worden, eigeninitiativ eine Verbesserung ihrer Lebenssituation herbeizuführen verbunden mit einer Ablösung vom Elternhaus (in dem sie weiterhin in einer Dachgeschosswohnung lebte). Für die Zeit nach Beendigung der Reha seien ihr u. a. Entspannungstechniken empfohlen sowie nahe gelegt worden, bei den zuständigen Stellen eine Hörgeräte-Neuversorgung zu erreichen.

In der Folgezeit beantragte die Klägerin nach ärztlicher Verordnung, Hörgeräte-Anpassung durch einen Hörgeräte-Akustiker und unter Einschaltung eines Versichertenberaters bei den in Betracht kommenden Leistungsträgern die Versorgung mit beidseitigen digitalen Hörgeräten, u. a. bei der für sie zuständigen Krankenkasse und der Bundesanstalt/Bundesagentur für Arbeit. Nachdem diese Träger die Kostenübernahme ganz oder überwiegend abgelehnt hatten, stellte die Klägerin im Juli 2003 bei der Beklagten den zu diesem Verfahren führenden Antrag auf Kostenübernahme in Höhe von 3.678 Euro, der sich nach der beigefügten Rechnung des Unternehmens für Hörgeräte-Akustik (A M GmbH) vom 15. Juli 2002 aus dem Kaufpreis für die beiden digitalen Hörgeräte in Höhe von 4.767,73 Euro abzüglich des Zuschusses der Krankenkasse der Klägerin in Höhe von 1.089,73 Euro ergab. Zur Begründung ihres Antrags gab die Klägerin an, inzwischen seit August 2002 zur Bürokauffrau umgeschult zu werden (in einem kleineren Kfz-Betrieb) und die Hörgeräteversorgung zu benötigen, um die Umschulungsmaßnahme beenden zu können. Zur Glaubhaftmachung legte sie den Anpassbericht des Hörgeräte-Akustikers vom 3. Juli 2003 vor.

Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 4. August 2003 ab und führte in...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge