Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Zuzahlungen seit 1.1.2004. Belastungsgrenze. Verfassungsmäßigkeit

 

Orientierungssatz

Die durch das GKV-Modernisierungsgesetz vom 14.11.2003 - BGBl I 2190 zum 1.1.2004 eingeführten Neuregelungen im Bereich der Zuzahlungen verstoßen nicht gegen das aus Art 20 Abs 1 GG folgende Sozialstaatsprinzip und gegen das rechtsstaatliche Vertrauensschutzgebot.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 22.04.2008; Aktenzeichen B 1 KR 18/07 R)

 

Tatbestand

Der Rechtsstreit betrifft die Befreiung von Zuzahlungen in der gesetzlichen Krankenversicherung.

Der im April 1967 geborene Kläger war im Jahre 2003 von Zuzahlungen in der gesetzlichen Krankenversicherung befreit und hatte von der Beklagten einen entsprechenden Ausweis erhalten. Er ist als Schwerbehinderter mit einem GdB von 50 anerkannt. Mit Schreiben vom 15. Dezember 2003 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass durch das zum 1. Januar 2004 in Kraft tretende Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Modernisierungsgesetz - GMG -, BGBl I 2190) vom 14. November 2003 umfassende Änderungen der gesetzlichen Bestimmungen im Bereich der Zuzahlungen eintreten würden. Künftig seien Zuzahlungen bis zur so genannten Belastungsgrenze von den Versicherten selbst aufzubringen. Die Belastungsgrenze betrage 2% der jährlichen Bruttoeinnahmen, bei chronisch Kranken 1% der jährlichen Bruttoeinnahmen. Sein Ausweis über die Befreiung von Zuzahlungen verliere deshalb mit Ablauf des 31. Dezember 2003 seine Gültigkeit. Er dürfe ab 1. Januar 2004 nicht mehr eingesetzt werden und sei zu vernichten.

Mit seinem am 11. Januar 2004 erhobenen Widerspruch machte der Kläger geltend, die neuen gesetzlichen Regelungen verstießen gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz des Rückwirkungsverbotes und seien auch mit dem Sozialstaatsprinzip nicht vereinbar. Dr. J bescheinigte dem Kläger mit Datum vom 1. März 2004, dass er wegen eines Bandscheibenleidens auf kontinuierliche Behandlung angewiesen sei. Mit Bescheid vom 19. März 2004 teilte die Beklagte dem Kläger mit, seine Belastungsgrenze für das Jahr 2004 belaufe sich auf einen Betrag von 74,66 €.

Mit Widerspruchsbescheid vom 30. Juni 2004 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Die früher von ihr ausgesprochene Befreiung von Zuzahlungen sei unter Berücksichtigung der Bestimmungen in § 39 Abs. 2 Sozialgesetzbuch - Zehntes Buch - (SGB X) durch die mit dem GMG am 1. Januar 2004 eingetretenen Gesetzesänderungen unwirksam geworden. Ab dem 1. Januar 2004 habe der Kläger Zuzahlungen bis zur Höhe der für ihn errechneten Belastungsgrenze selbst zu tragen.

Mit seiner am 12. Juli 2004 erhobenen Klage hat der Kläger geltend gemacht, dass die Zuzahlungen seine finanziellen Möglichkeiten überstiegen. Die neuen gesetzlichen Regelungen seien verfassungswidrig, verstießen insbesondere gegen das Sozialstaatsprinzip und gegen das Rückwirkungsverbot. Er habe auf die Fortwirkung der bis zum 31. Dezember 2003 geltenden Bestimmungen vertrauen dürfen. Jedenfalls hätten für die neuen Regelungen schonende Übergangsregelungen vorgesehen werden müssen. Während des Klageverfahrens teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass er ab dem 1. Juli 2004 bis 31. Dezember 2004 von Zuzahlungen befreit sei.

Das Sozialgericht (SG) Lüneburg hat die Klage durch Urteil vom 17. März 2005 abgewiesen. Der dem Kläger vor dem 31. Dezember 2003 erteilte Bescheid über die Befreiung von Zuzahlungen sei durch die mit dem GMG einhergehenden Änderungen des Sozialgesetzbuch - Fünftes Buch - (SGB V) gemäß § 39 Abs. 2 SGB X unwirksam geworden. Die Regelungen des GMG seien auch mit der Verfassung vereinbar. Ein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot sei mit den geänderten Zuzahlungsregelungen nicht verbunden, denn die Änderungen wirkten nur in die Zukunft. Unter Berücksichtigung des hohen öffentlichen Interesses an der finanziellen Stabilität im System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) sei der Gesetzgeber berechtigt gewesen, den Versicherten eine erhöhte Eigenleistung bei bestimmten Leistungen der GKV abzuverlangen.

Gegen dieses ihm am 7. April 2005 zugestellte Urteil hat der Kläger am 11. April 2005 Berufung eingelegt. Dem SG sei nicht darin zuzustimmen, dass der ihm vor Inkrafttreten des GMG erteilte Befreiungsbescheid unwirksam geworden sei. Er wirke daher weiterhin fort. Das gesetzgeberische Ziel, die Lohnnebenkosten zu senken, sei nicht erreicht worden, denn die Krankenkassenbeiträge seien nicht gesenkt worden. Wegen der erheblichen Folgen der geänderten Zuzahlungsregelungen habe der Gesetzgeber Übergangsregelungen vorsehen müssen.

Der Kläger beantragt,

1.

das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 17. März 2005 sowie die Bescheide der Beklagten vom 15. Dezember 2003 und 19. März 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Juni 2004 aufzuheben;

2.

die Beklagte zu verurteilen, ihn auch über den 31. Dezember 2003 hinaus vollständig von Zuzahlungen in der gesetzlichen Krankenversicherung zu befreien.

Die Beklagte beantragt,

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