Entscheidungsstichwort (Thema)

Vertragsärztliche Versorgung. Wirtschaftlichkeitsprüfung der Arzneimittelverordnungen. Arzneimittelregress wegen der Verordnung von Immunglobulinen. keine Einhaltung einer Antragsfrist in der Zeit vom 1.1.2000 bis zum 31.12.2003. maßgebliches Verwaltungsverfahrensrecht. Zulässigkeit des Off-label-use. Verschulden des Vertragsarztes. Vertrauensschutz bei möglicherweise unklarer Rechtslage. Zulässigkeit der Anschlussberufung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Weil der Gesetzgeber für die Zeit vom 1.1.2000 bis zum 31.12.2003 davon ausging, dass jede Form der Wirtschaftlichkeitsprüfung von Amts wegen zu erfolgen hatte, und demnach ein Antrag in diesem Zeitraum keine Verfahrensvoraussetzung für die Festsetzung eines Arzneimittelregresses war, kann es auch nicht auf die Einhaltung einer Antragsfrist ankommen.

2. Maßgeblich für die Frage des anzuwendenden Verwaltungsverfahrensrechts ist nach den allgemeinen Grundsätzen des intertemporalen Verfahrensrechts der Zeitpunkt, zu dem die Wirtschaftlichkeitsprüfung durchgeführt wird. Materiell-rechtlich ist hingegen das zum Zeitpunkt der Arzneimittelverordnung geltende Recht anzuwenden.

3. Der zulassungsüberschreitende Einsatz von Arzneimitteln war - anders als dem Urteil des 8. Senats vom 30.9.1999 - B 8 KN 9/98 KR R = BSGE 85, 36 entnommen werden könnte - nach der Entscheidung des 1. Senats des BSG vom 5.7.1995 - 1 RK 6/95 = BSGE 76, 194 nicht einschränkungslos zulässig, sondern von Anforderungen abhängig, aus denen das BSG später die nunmehr maßgeblichen Voraussetzungen des Off-label-use entwickelt hat und die diesen im Kern entsprechen.

4. Der Festsetzung eines Regresses wegen der Verordnung nicht verordnungsfähiger Arzneimittel kann der Einwand ersparter Aufwendungen (zB für Krankenhausbehandlungskosten) nicht entgegengehalten werden.

5. Die Festsetzung eines Regresses wegen der Verordnung nicht verordnungsfähiger Arzneimittel setzt kein Verschulden des Vertragsarztes voraus.

6. Eine möglicherweise unklare Rechtslage ist nicht geeignet, Vertrauensschutz zugunsten des verordnenden Arztes zu begründen, da sie ihm nicht die Gewissheit von der Rechtmäßigkeit seines Handelns vermitteln kann.

7. Die Anschlussberufung muss sich nicht auf denselben Streitgegenstand wie die (Haupt-)Berufung beziehen, sondern kann auch Teile des erstinstanzlichen Urteils zur Prüfung des Berufungsgerichts stellen, die von der Berufung nicht erfasst werden (Abweichung von BSG vom 10.2.2005 - B 4 RA 48/04 R, vom 23.6.1998 - B 4 RA 33/97 R, vom 19.6.1996 - 6 RKa 24/95, vom 11.12.1979 - 7 RAr 2/79 = SozR 1750 § 522 Nr 1 und vom 8.7.1969 - 9 RV 256/66 = SozR Nr 12 zu § 521 ZPO).

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 05.05.2010; Aktenzeichen B 6 KA 6/09 R)

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 9. Februar 2005 wird zurückgewiesen.

Auf die Berufung der Beigeladenen zu 2) wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 9. Februar 2005 geändert und die Klage insgesamt abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 1), die diese selbst trägt.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um einen Regress wegen der Verordnung des zu den Immunglobulinen zählenden, intravenös (i.v.) zu verabreichenden Arzneimittels Polyglobin 5 % durch den Kläger in den Quartalen II/1999 bis IV/1999.

Der Kläger nimmt an der hausärztlichen Versorgung in B teil. Er verordnete seiner bei der Beigeladenen zu 2) krankenversicherten, 1932 geborenen Patientin H H (im Folgenden: die Versicherte) zur Behandlung der Erkrankungen metastasierendes Tubenkarzinom, Lebermetastasierung, Peritonealkarzinose, Thrombozytopenie, Leukopenie, Antikörpermangelsyndrom, Colisepsis und rezidivierende bakterielle Infektionen das Arzneimittel Polyglobin 5 %

- im Quartal II/1999

in 10 Fällen

- im Quartal III/1999

in 4 Fällen

- im Quartal IV/1999  

in 3 Fällen.

Dieses Arzneimittel ist nach Angaben des Paul-Ehrlich-Instituts für folgende Anwendungsgebiete zugelassen:

Substitutionstherapie bei:

Primären Immunmangelsyndromen wie:

- Kongenitale Agammaglobulinämie und Hypogammaglobulinämie

- Allgemeine, variable Immunmangelkrankheiten

- Schwere kombinierte Immunmangelkrankheiten

- Wiskott-Aldrich Syndrom

Chronisch-lymphatischer Leukämie (CLL) oder Multiplem Myelom mit schwerer sekundärer Hypogammaglobulinämie und rezidivierenden bakteriellen Infektionen

Kindern mit angeborenem AIDS und rezidivierenden Infektionen

Immunmodulation

- Idiopathische (autoimmune) thrombozytopenische Purpura (ITP) bei Erwachsenen und Kindern mit einem hohen Blutungsrisiko oder vor Operationen zur Korrektur der Thrombozytenzahl

- Kawasaki Syndrom (in Verbindung mit einer Acetylsalicylsäure-Therapie)

- Guillain-Barré Syndrom

Allogene Knochenmarktransplantation

Mit am 1. Dezember 2000 eingegangen Schreiben stelle die BKK Berlin - eine Rechtsvorgängerin der Beigeladenen zu 2) - einen “Antrag auf Feststellung eines sonstigen Schadens gemäß § 14 der Prüfvereinbarung vom 10....

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