Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht: Voraussetzung einer Mehrfachanrechnung auf Pflichtarbeitsplätze  bei Einstellung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers. Hochschulabschluss als berufliche Ausbildung. Anforderung an die Annahme der Übernahme eines Auszubildenden in ein Beschäftigungsverhältnis

 

Orientierungssatz

1. Im Rahmen der beruflichen Integration von schwerbehinderten Arbeitnehmern stellt ein Hochschulstudium keine abgeschlossene Ausbildung im Sinne des § 76 Abs 2 SGB 9 dar, die im Beschäftigungsfall zugunsten des Arbeitgebers zu einer Mehrfachanrechnung auf die Pflichtarbeitsplätze für Menschen mit Behinderung führt.

2. Die für die Zuerkennung einer Mehrfachanrechnung nach § 76 SGB 9 erforderliche Übernahme eines schwerbehinderten Arbeitnehmers in ein Beschäftigungsverhältnis nach Abschluss einer Ausbildung setzt eine enge zeitliche Nähe zwischen Ausbildungsende und Beschäftigungsaufnahme voraus. Im Falle einer der Beschäftigung vorausgehenden länger dauernden Beschäftigungslosigkeit kann nicht mehr von einer “Übernahme„ ausgegangen werden.

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 21. Januar 2013 geändert.

Die Klage wird in vollem Umfang abgewiesen.

Die Berufung der Klägerin wird zurückgewiesen.

Die Klägerin trägt für beide Rechtszüge die Gerichtskosten und die außergerichtlichen Kosten der Beklagten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert wird für beide Rechtszüge auf 4.862,86 € festgesetzt.

 

Tatbestand

Streitig ist die Verpflichtung der Beklagten, die Beschäftigung des Arbeitnehmers J B (im folgenden: Arbeitnehmer) mehrfach als Pflichtarbeitsplatz nach den Vorschriften über die Beschäftigung schwerbehinderter Menschen für die Rechtsvorgängerin der Klägerin, der Fraktion DIE LINKE der 17. Wahlperiode des Deutschen Bundestags (im Folgenden: Fraktion) anzurechnen.

Der Arbeitnehmer ist 1980 geboren worden. Bei ihm ist seit 1984 ein Grad der Behinderung nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG)/Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) von 100 wegen einer erheblichen Sehbehinderung festgestellt. Außerdem sind (jedenfalls) seit 1992 die Voraussetzungen für die Merkzeichen G, H, RF und Bl. anerkannt.

Von Oktober 2000 bis April 2008 absolvierte der Arbeitnehmer ein Hochschulstudium der Politologie, das er mit dem Diplomgrad erfolgreich abschloss. Nach einer Zeit eigener Arbeitsuche war er seit Juli 2008 durchgehend bis 14. Februar 2010 arbeitslos gemeldet.

Am 9. Februar 2009 schlossen die Fraktion und der Arbeitnehmer mit Wirkung ab dem 15. Februar 2010 einen auf die Dauer der 17. Wahlperiode des Deutschen Bundestags befristeten Arbeitsvertrag in Vollzeitbeschäftigung (39 Wochenstunden) als Referent für Behindertenpolitik. Die Beklagte gewährte der Fraktion aus Anlass der Einstellung einen Eingliederungszuschuss für besonders betroffene schwerbehinderte Menschen bis zum 14. Februar 2011 sowie dem Arbeitnehmer selbst Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Gestalt einer Arbeitsassistenz (dem Grunde nach; Ausführung durch das Landesamt für Gesundheit und Soziales B, das ab dem Beginn des Beschäftigungsverhältnisses bei der Fraktion, zunächst befristet bis zum 31. Januar 2011, einen zweckgebundenen Zuschuss in Höhe von 1.430,-- € monatlich aus den Mitteln der Ausgleichsabgabe nach dem SGB IX, ausgehend von einem täglichen Assistenzbedarf von 7,8 Stunden = 39 Stunden wöchentlich bewilligte) und der Aufwendungen für eine technische Arbeitshilfe (Bildschirmausleseprogramm mit Sprachausgabe-Software, 2998,80 €).

Am 11. Februar 2010 beantragte die Fraktion bei der Beklagten, ebenfalls mit Wirkung ab dem Beginn der Beschäftigung, die Anrechnung des Arbeitsplatzes des Arbeitnehmers auf zwei Pflichtarbeitsplätze nach § 76 SGB IX. Als behinderungsbedingte Einschränkung führte sie an, dass zusätzliche Ausrüstungsgegenstände (IT-Technik) für ihn und ein zweiter Arbeitsplatz für die Assistenz dauerhaft erforderlich seien. Als behinderungsbedingte Mehraufwendungen für sich selbst als Arbeitgeberin führte sie an, dass der Arbeitnehmer nicht nur vorübergehend einer besonderen Hilfskraft bedürfte, dass er erstmals seit Abschluss seines Studiums im Jahr 2008 eine Beschäftigung aufnehme und deshalb einer besonderen Einarbeitung bedürfte sowie dass zusätzlicher Aufwand entstehe, indem etwa Dokumente gesondert eingescannt und zur Verfügung gestellt werden müssten.

Durch Bescheid vom 19. August 2010 lehnte die Beklagte diesen Antrag ab. Es reiche nicht aus, dass der Arbeitnehmer zum Kreis der im Arbeitsleben besonders betroffenen behinderten Menschen gehöre. Die erforderliche Hilfskraft werde durch das Integrationsamt finanziert. Doppelförderungen seien zu vermeiden.

Mit ihrem Widerspruch machte die Fraktion geltend, dass der zusätzliche Aufwand für die Beschäftigung des Arbeitnehmers über die Anstellung einer Assistenzkraft hinausgehe. Damit er seine Aufgaben, speziell in Sitzungswochen des Bundestags, erfüllen könne, sei dem Arbeitnehmer eine zweite Assistenzkraft zugeord...

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