Entscheidungsstichwort (Thema)

Gesetzliche Unfallversicherung. Arbeitsunfall. Tatbestandsmerkmal: Unfallereignis. äußere Einwirkung. Wahrnehmung eines sozial adäquaten Geschehensablaufs. Verursachung eines Gesundheitserstschadens. Schutzzweck der Norm. Solidaritätsprinzip. Beinaheunfall. berufstypische Belastung. posttraumatische Belastungsreaktion. Abbremsen eines Zuges. vermeintlicher Fußgänger im Gleisbereich

 

Leitsatz (amtlich)

1. Das Abbremsen eines Zuges, ohne dass die Verkehrssituation dies erfordert, stellt keinen (Arbeits-) Unfall dar (Anschluss an LSG Berlin-Potsdam vom 26.8.2010 - L 2 U 23/09 = UV-Recht Aktuell 2010, 1238).

2. Die Wahrnehmung eines sozial adäquaten Geschehensablaufs erfüllt den Unfallbegriff des SGB 7 selbst dann nicht, wenn sie einen Gesundheitserstschaden verursacht haben sollte.

3. Die alltägliche Wahrnehmung sozial adäquater Geschehensabläufe stellt ein "Risiko" dar, das nicht in den Schutzbereich der gesetzlichen Unfallversicherung fällt.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 29.11.2011; Aktenzeichen B 2 U 10/11 R)

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 16. Januar 2009 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander auch für das Berufungsverfahren keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt von der Beklagten die Gewährung von Leistungen aufgrund eines Ereignisses vom 30. März 2007; vorab ist streitig, ob dieses Ereignis den Unfallbegriff im Sinne des Siebenten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) erfüllt.

Der 1955 geborene Kläger war seit Oktober 1974 bei der S-Bahn Berlin als Führer von Schienenfahrzeugen beschäftigt.

Laut Unfallanzeige vom 23. April 2007 führte der Kläger am Freitag, den 30. März 2007 um 14.30 Uhr, als Triebfahrzeugführer einen S-Bahnzug. Weiter ist ausgeführt: “Bei Annäherung an einen Bahnübergang überquerte eine männliche Person bei geschlossenen Schranken den Bahnübergang.„ Der Versicherte habe einen Schock erlitten.

Im Durchgangsarztbericht des Dr. M vom 12. April 2007 ist zum Unfallhergang vermerkt: “Ich war dienstlich unterwegs. Ich sah einen Fußgänger, trotz geschlossener Schranke, den Bahnübergang überqueren. Ich führte eine Vollbremsung durch und kam ca. 2 Meter vor dem Fußgänger mit dem Triebfahrzeug zum Stehen.„

Im Widerspruchsverfahren beschrieb der Kläger(-bevollmächtigte) den Unfallhergang wie folgt: Bei Annäherung an einen Bahnübergang (kurz vor der Einfahrt in den S-Bahnhof B) mit einer zulässigen Geschwindigkeit von 100 km pro Stunde habe er einen Fußgänger bemerkt, der sich trotz geschlossener Schranken im Gleisbereich bewegt habe. Er habe sofort eine Gefahrenbremsung eingeleitet und ein Achtungssignal (Pfeifen) gegeben. Weiter gab der Kläger an, der Fußgänger habe plötzlich begonnen in Richtung seines Triebwagens zu rennen. Der Fußgänger habe circa 2 m vor dem Zug den Gleisbereich erreicht. Der Zug sei erst circa 50 m hinter dem vermeintlichen Unfallpunkt zum Stehen gekommen. Er habe zu diesem Zeitpunkt vermutet, dass er mit seinem Zug den Fußgänger tatsächlich erfasst habe. Erst nachdem er seinen Zug gesichert habe und zur Unfallstelle habe zurücklaufen wollen, habe er beim Aussteigen gesehen, wie der Fußgänger, den er an der Kleidung habe erkennen können, offensichtlich unverletzt bereits auf dem Weg in Richtung der anderen Straßenseite gewesen sei. Er habe daraufhin seinen Dienst abbrechen müssen.

Mit Unfallanzeige von 23. April 2007 zeigte der Arbeitgeber des Klägers der Beklagten dieses Geschehen an. Der Chirurg, Unfallarzt und Durchgangsarzt Dr. M teilte in Durchgangsarztberichten vom 12. April 2007 und - nach Wiedererkrankung des Klägers - vom 24. August 2007 mit, er habe bei dem Kläger eine posttraumatische Belastungsreaktion bzw. eine rezidivierende traumatische Stressreaktion diagnostiziert. Arbeitsunfähigkeit nahm er vom 3. April 2007 bis 04. Mai 2007 sowie vom 24. August 2007 zunächst bis zum 29. August 2007 an. Mit Schreiben vom 11. September 2007 hielt er eine weitere Arbeitsunfähigkeit von voraussichtlich noch vier Wochen für angezeigt.

Die Beklagte zog eine Information über ein Auffang- und Beratungsgespräch nach dramatischem dienstlichen Ereignis vom 30. April 2007, erstellt von der Diplom-Psychologin R, bei.

Mit Bescheid vom 20. September 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Januar 2008 lehnte die Beklagte einen Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung wegen Folgen des Ereignisses vom 30. März 2007 ab. Zur Begründung führte sie unter anderem aus, der Kläger habe eine Vollbremsung eingeleitet und sei circa 2 m vor dem Fußgänger zum Stehen gekommen. Äußerliche Verletzungen seien keine eingetreten. Ein eigentliches Unfallereignis im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung als Ursache einer Verletzung habe nicht stattgefunden. Der Kläger habe sich zu keinem Zeitpunkt in einer lebensbedrohlichen Situation befunden. Allein die Vorstellung eines Unfalls sei für die Erfüllung des Unfallbegriffes nicht ausreichend. Es...

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