Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. prozessuale Stellung einer beklagten Behörde bei Zuständigkeitswechsel. Krankenversicherung. Festbetragsfestsetzung. Verwaltungsakt in Form einer Allgemeinverfügung. keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Klagebefugnis des betroffenen Arzneimittelherstellers. Allgemeinverfügungen der Spitzenverbände der Krankenkassen vom 29.10.2004 und 10.2.2006 bezüglich der Festbetragsfestsetzung für den Wirkstoff Atorvastatin und Absenkung des Festbetrages für die Wirkstoffgruppe der HMG-CoA-Reduktasehemmer rechtmäßig

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Prüfung der pharmakologisch-therapeutischen Vergleichbarkeit verschiedener Wirkstoffe im Sinne von § 35 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 5 hat sich entscheidend am Inhalt der jeweiligen arzneimittelrechtlichen Zulassung zu orientieren.

2. § 35 Abs 1 S 3 Halbs 2 SGB 5 in der bis zum 30.4.2006 geltenden Fassung ist in Bezug auf die Konjunktion "und" so zu verstehen, dass gleichzeitig (kumulativ) "Neuartigkeit" der Wirkungsweise und "therapeutische Verbesserung" vorliegen mussten, um die Aufnahme eines Arzneimittels in eine Festbetragsgruppe nach § 35 Abs 1 S 2 Nr 2 und 3 auszuschließen. Die Auslegung eines "und" als "oder" verstieße schlechthin gegen die in der juristischen Methodenlehre anerkannte Regel, dass der Wortlaut einer Norm ihrer Auslegbarkeit strikte Grenzen setzt.

 

Orientierungssatz

1. Die prozessuale Stellung einer beklagten Behörde bleibt grundsätzlich unberührt, wenn nach Erhebung einer Klage eine andere Behörde für den Erlass der streitgegenständlichen Entscheidung zuständig wird. Eine Ausnahme gilt dann, wenn der Zuständigkeitswechsel auf einem Organisationsakt der Verwaltung beruht.

2. Bei der Festbetragsfestsetzung gemäß § 35 Abs 3 S 1 SGB 5 handelt es sich um einen Verwaltungsakt in Form einer Allgemeinverfügung nach § 31 S 2 SGB 10. Die Festbetragsfestsetzung in Form einer Allgemeinverfügung begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken; insbesondere gebietet Verfassungsrecht nicht, Festbeträge durch Rechtsverordnung festzusetzen (vgl BVerfG vom 17.12.2002 - 1 BvL 28/95 = SozR 3-2500 § 35 Nr 2).

3. Die Hersteller eines von der Festbetragsfestsetzung betroffenen Arzneimittels sind klagebefugt iS von § 54 Abs 1 S 2 SGG.

4. Die Allgemeinverfügung der Spitzenverbände der Krankenkassen vom 29.10.2004 bezüglich der Festsetzung eines Festbetrages für den Wirkstoff Atorvastatin war formell als auch materiell rechtmäßig. Auch die Allgemeinverfügung der Spitzenverbände der Krankenkassen vom 10.2.2006 bezüglich der Absenkung des Festbetrages für die Wirkstoffgruppe der HMG-CoA-Reduktasehemmer verstößt nicht gegen höherrangiges Recht.

5. Die Richtliniensetzung des Gemeinsamen Bundesausschusses erfolgt im Rahmen eines gerichtlich nur eingeschränkt nachprüfbaren Gestaltungsspielraumes.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 01.03.2011; Aktenzeichen B 1 KR 7/10 R)

 

Tenor

Die Berufung der Klägerinnen gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 22. November 2005 wird zurückgewiesen.

Die Klage gegen die Allgemeinverfügung der Spitzenverbände der Krankenkassen vom 10. Februar 2006 wird abgewiesen.

Die Klägerinnen tragen die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen zu 1); die übrigen Beigeladenen tragen ihre außergerichtlichen Kosten selbst.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die klagenden pharmazeutischen Unternehmen wenden sich gegen die Festsetzung eines Festbetrages für den Wirkstoff Atorvastatin in der Festbetragsgruppe der HMG-CoA-Reduktasehemmer. Streitgegenständlich sind hier die Allgemeinverfügungen der ehemaligen Spitzenverbände der Krankenkassen, der Rechtsvorgänger des Beklagten, vom 29. Oktober 2004 und vom 10. Februar 2006.

Atorvastatin gehört zur Wirkstoffgruppe der Statine, wird synthetisch hergestellt, hemmt die HMG-CoA-Reduktase und senkt auf diese Weise das LDL-Cholesterin. Der Wirkstoff ist enthalten in dem von den Klägerinnen seit 1997 in Deutschland hergestellten und vertriebenen Fertigarzneimittel Sortis®. Atorvastatin wurde am 17. Dezember 1996 zugelassen und genießt bis 2011 Patentschutz. Die Zulassung erfasste zunächst die Wirkstärken 10, 20, 40 mg, später auch die Wirkstärke 80 mg.

Nach der Fachinformation mit Stand vom Januar 2003 (Wirkstärken 10, 20, 40 mg) bzw. Januar 2006 (Wirkstärken 10, 20, 40 und 80 mg) erstreckte sich die Zulassung von Sortis® auf folgende Anwendungsgebiete:

Die Anwendung von Sortis ist zusätzlich zu einer Diät angezeigt zur Senkung erhöhter Gesamtcholesterin-, LDL-Cholesterin-, Apo-Lipoprotein-B- und Triglyzeridspiegel bei Patienten mit Primärer Hypercholesterinämie, einschließlich Familiärer Hypercholesterinämie (heterozygote Variante) oder Kombinierter (Gemischter) Hyperlipidämie (entsprechend Typ II a und II b nach Fredrickson), wenn Diät und andere nicht pharmakologische Maßnahmen keine ausreichende Wirkung erbringen.

Sortis ist auch zur Senkung von Gesamt- und LDL-Cholesterin bei Patienten mit Homozygoter Familiärer Hypercholesterinämie angezeigt - ent...

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