Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Nichterscheinen im Termin zur mündlichen Verhandlung. Verhandlung in Abwesenheit des Klägers und seines Prozessvertreters. Erhebung einer Anschlussberufung durch die Gegenseite während des Termins. keine Verletzung des rechtlichen Gehörs. soziales Entschädigungsrecht. Impfschaden- Hepatitis-B-Impfung. multiple Sklerose. ursächlicher Zusammenhang. wissenschaftlicher Erkenntnisstand. Einzelmeinung in Fachpublikation. Kann-Versorgung. Beschädigtenrente. Retrobulbärneuritis. Beweiswürdigung. Vertagung. Befragung des Sachverständigen im Termin

 

Leitsatz (amtlich)

1. Bleiben Beteiligte dem Termin zur mündlichen Verhandlung vorwerfbar fern, versäumen sie es, sich rechtliches Gehör zu verschaffen, weshalb sie in ihrem verfassungsrechtlich verankerten Anspruch hierauf selbst dann nicht verletzt sind, wenn Anschlussberufung erhoben wird.

2. Der aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisstand, der für die Beurteilung der Kausalität von geltend gemachten Impfschäden, aber auch bei allen anderen medizinischen Fragen maßgebend ist, ändert sich durch eine Fachpublikation, bei er es sich um eine Einzelmeinung handelt, nicht.

 

Normenkette

IfSG § 2 Nr. 11, § 60 Abs. 1 S. 1, § 61 S. 2; BVG § 30 Abs. 1 S. 1; ZPO § 227 Abs. 1 S. 1, Abs. 4 S. 1, § 411 Abs. 4, § 524; SGG § 55 Abs. 1 Nr. 3; GG Art. 19 Abs. 4

 

Tenor

Auf die Anschlussberufung des Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 12. August 2015 aufgehoben, soweit er verpflichtet worden ist, bei der Klägerin ab 13. April 2010 eine Retrobulbärneuritis rechts anzuerkennen.

Die Berufung der Klägerin wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Instanzen nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Feststellung einer Multiplen Sklerose als Folge einer Schädigung durch die Impfung gegen Hepatitis B mit dem Impfstoff “E.„ am 18. April 2007 und deswegen die Gewährung einer Beschädigtenrente nach einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 70. Der Beklagte verfolgt mit der Anschlussberufung die Aufhebung seiner erstinstanzlichen Verpflichtung.

Die Klägerin wurde 1963 geboren. Nachdem die Arbeit als Krankenschwester für sie zu belastend war, schulte sie zur Bürokauffrau um. Sie kehrte jedoch, als sie keine Anstellung fand, in ihren ursprünglich erlernten Beruf zurück. Sie bildete sich als klinische Kodiererin weiter und schloss ein Fernstudium mit dem “Bachelor of Nursing„ ab. Die Deutsche Rentenversicherung Bund bewilligte ihr erstmals mit Bescheid vom 27. März 2007 eine vom 1. Juli bis 31. Dezember 2006 befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung, welche sie seit 2010 unbefristet bezieht. Der Grad der Behinderung wurde bei ihr vom Landratsamt K. mit Bescheid vom 9. Dezember 2010 mit 70 seit 13. April 2010 wegen Funktionsbeeinträchtigungen durch eine seelische Störung, eine Persönlichkeitsstörung, eine depressive Verstimmung, eine Migräne, ein organisches Nervenleiden und eine Endometriose festgestellt.

Auf Anraten des Betriebsarztes des Klinikums K., wo die Klägerin zuletzt beschäftigt war, entschloss sie sich zu Impfungen, welche Dr. D., Arzt für Allgemeinmedizin, K. am 18. April 2007 mit dem Impfstoff “E.„ (Charge: X.) gegen Hepatitis B sowie mit dem Impfstoff “R.„ gegen Tetanus, Diphterie und Polio vornahm.

Nach dem Bericht von Dr. H., Arzt für Neurologie und Psychiatrie, über Untersuchungen der Klägerin am 3. und 9. August 2007 wurde eine Retrobulbärneuritis rechts bei Verdacht auf eine Multiple Sklerose diagnostiziert. Die Klägerin habe sich bereits am 9. Mai 2007 mit Verdacht auf eine Retrobulbärneuritis rechts vorgestellt, welche sich damals aber in den visuell evozierten Potentialen noch nicht habe bestätigen lassen. Der beklagte Schmerz bei den Augenbewegungen sei inzwischen abgeklungen gewesen, es habe aber noch ein Schleiersehen auf dem rechten Auge bestanden. Perimetrisch seien nun augenärztlich erstmals Gesichtsfeldausfälle nachgewiesen worden. Ein kranielles Magnetresonanztomogramm (MRT) von Mai 2007 zeige zwei Herde frontal beidseits und einen unsicheren im Halsmark. Für eine Multiple Sklerose seien diese Befunde allerdings noch nicht als beweisend angesehen worden. Auf Wunsch der Klägerin sei die Borrelien-Serologie kontrolliert worden, welche aber, wie früher, negativ gewesen sei. Einer Lumbalpunktion habe sie sich nicht unterziehen wollen.

Die Klägerin hielt sich vom 18. bis 26. Mai 2009 stationär im Neurologischen Fach- und Rehabilitationskrankenhaus der Kliniken Sch. in A. auf. Nach dem Entlassungsbericht von Prof. Dr. K., Ärztlicher Leiter des Bereiches Akutneurologie, wurden eine psychogen überlagerte Schluckstörung, eine Multiple Sklerose und eine Kachexie diagnostiziert. Die Aufnahme sei zur Abklärung einer Kachexie als Folge einer von der Klägerin geschilderten gestörten oralen Phase beim Essen von flüssigen und festen Speisen erfolgt. Innerhalb der letzten zwölf Monate habe sie 8 kg abgenommen. Sie wiege jetzt noch 40 kg. Zudem habe der Verdacht auf einen entz...

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