Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Freizügigkeit der Unionsbürger und Familienangehörigen. nichteheliche Lebensgemeinschaft. Schwangerschaft. Arbeitnehmerfreizügigkeit. Beschäftigung ohne Arbeitserlaubnis. Europarechtskonformität. Nichtunterzeichnung des EuFürsAbk durch Bulgarien. Erwerbsfähigkeit bulgarischer Staatsangehöriger nach § 8 Abs 2 SGB 2 aF

 

Leitsatz (amtlich)

1. Eine in Deutschland ausgeübte Berufstätigkeit ohne dafür erforderliche Arbeitsgenehmigung begründet nicht den Status als Arbeitnehmer nach § 2 Abs 2 Nr 1 Alt 1, Abs 3 FreizügG/EU (vgl § 13 FreizügG/EU; juris: FreizügG/EU 2004).

2. Schwangere nichteheliche Lebensgefährten eines Unionsbürgers sind keine Familienangehörige iS von § 3 Abs 1, Abs 2 FreizügG/EU.

3. Der Anspruchsausschluss aus § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 für Unionsbürger, die sich nur zur Arbeitsuche in Deutschland aufhalten, verstößt nicht gegen Recht der Europäischen Union, insbesondere nicht gegen Art 4 iVm Art 70 der EGV 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004 zur Koordinierung des Systeme der sozialen Sicherheit und auch nicht gegen Art 24 Abs 1, Abs 2 der EGRL 38/2004 des Parlaments und des Rates vom 29.4.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten.

4. Auf etwaige Rechte aus dem Europäischen Fürsorgeabkommen (EFA - juris: EuFürsAbk) kann sich nicht berufen, wer lediglich die Staatsangehörigkeit eines Nichtsignatarstaats innehat, auch wenn dieser Staat Mitglied der EU ist.

 

Orientierungssatz

Bereits in der Zeit vor dem 1.4.2011 reichte für die Annahme der Erwerbsfähigkeit eines ausländischen Staatsangehörigen (§ 8 Abs 2 SGB 2 aF) die rechtliche Möglichkeit aus, eine Beschäftigung vorbehaltlich einer Zustimmung nach § 39 AufenthG 2004 aufzunehmen. Auch bulgarische Staatsangehörige ohne qualifizierte Berufsausbildung werden in die Vorrangprüfung des § 284 Abs 3 SGB 3 iVm § 39 Abs 2 AufenthG 2004 einbezogen, wenn sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt bereits rechtmäßig im Inland haben.

 

Normenkette

SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2; FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1, Abs. 3; FreizügG/EU § 3 Abs. 1; FreizügG/EU § 3 Abs. 2; EGV 883/2004 Art. 4; EGRL 38/2004 Art. 24 Abs. 1; EGV 883/2004 Art. 70; EGRL 38/2004 Art. 24 Abs. 2; EuFürsAbk

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 30.01.2013; Aktenzeichen B 4 AS 54/12 R)

 

Tenor

1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 03. März 2011 wird zurückgewiesen.

2. Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

3. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

1. Die am … 1988 geborene Klägerin ist Staatsangehörige der Republik Bulgarien. Mit einem am 22.07.2009 ausgestellten bulgarischen Reisepass verließ sie am 28.07.2009 an dem Grenzübergang Gradina Bulgarien. Zu einem späteren, nicht bekannten Zeitpunkt reiste sie in die Bundesrepublik ein. Einwohnermelderechtlich wurde sie erstmals am 08.04.2010 “aus Bulgarien kommend„ in Stuttgart erfasst. Sie verfügte nicht über eine Arbeitserlaubnis. In der Zeit vor dem 08.04.2010 war sie nicht als Beschäftigte (bei einer Einzugsstelle oder der Minijobzentrale) angemeldet.

Am 06.07.2010 meldete sich die Klägerin bei einer Dienststelle des Jobcenters Stuttgart, das bis zum 31.12.2011 eine Arbeitsgemeinschaft bzw. Gemeinsame Einrichtung nach § 44b SGB II dargestellt hatte und seitdem von der Beklagten als zugelassener kommunaler Trägerin geführt wird. Die Klägerin begehrte Leistungen. Sie sei schwanger, der errechnete Geburtstermin sei der 25.10.2010 (Mutterpass vom 13.07.2010). Vater des Kindes sei ihr Lebensgefährte, der Staatsangehöriger der Republik Griechenland sei und laufend Leistungen nach dem SGB II beziehe. Er habe die Vaterschaft bereits anerkannt (Urkunde des Jugendamts der Beklagten vom 20.07.2010). In einer internen Vorlage führte die Zeugin A., eine Mitarbeiterin des Jobcenters, aus, die Klägerin sei schon über ein Jahr in Deutschland und habe in verschiedenen Bars gearbeitet.

Am 21.07.2010 beantragte die Klägerin bei der Bundesagentur für Arbeit (BA) die Erteilung einer Arbeitsgenehmigung-EU, worüber zunächst nicht entschieden wurde.

Mit Bescheid vom 28.07.2010 lehnte das damalige Jobcenter den Antrag der Klägerin nach dem SGB II ab. Es bestehe kein Anspruch, da die Klägerin Bulgarin sei und ihr die Aufnahme einer Beschäftigung nicht erlaubt sei und von der BA auch nicht erlaubt worden sei. Die Entscheidung beruhe auf § 7 Abs. 1 Satz 2 und § 8 Abs. 2 SGB II.

Die Klägerin erhob über ihren (späteren) Prozessbevollmächtigten Widerspruch. Sie ließ vortragen, sie halte sich nicht zur Arbeitssuche im Bundesgebiet auf. Tatsächlich unterliege sie einem Beschäftigungsverbot. Ihr Aufenthalt diene dem gemeinsamen Familienleben im Sinne von Art. 8 de...

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