Entscheidungsstichwort (Thema)

Einstweiliger Rechtsschutz. Überprüfung bestandskräftiger Bescheide. Anordnungsgrund. Glaubhaftmachung. Arbeitslosengeld II. Höhe des Zuschusses zum Versicherungsbeitrag zur privaten Krankenversicherung. Deckungslücke. halbierter Basistarif. verfassungskonforme Auslegung. Notversorgungspflicht

 

Leitsatz (amtlich)

1. Auch im Rahmen der begehrten Überprüfung bestandskräftiger Bescheide nach § 44 SGB 10 ist die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes möglich. Allerdings sind hierbei besonders strenge Anforderungen an die Glaubhaftmachung des Anordnungsgrundes zu stellen, da es dem Antragsteller im Regelfall zuzumuten ist, die Entscheidung im Verwaltungs- und gegebenenfalls in einem anschließenden gerichtlichen Hauptsacheverfahren abzuwarten.

2. Die wortgetreue Anwendung der über § 26 Abs 2 S 1 Nr 1 SGB 2 anwendbaren Regelung des § 12 Abs 1c S 5 und 6 VAG führt zu einer vom Gesetzgeber nicht beabsichtigten systemwidrigen Belastung des privat krankenversicherten Empfängers von SGB II-Leistungen, da er einen Teil seines Krankenversicherungsbeitrags selbst tragen müsste. Da ohne eine gesetzgeberische Regelung keine Rechtsgrundlage ersichtlich ist, aus der sich ein Anspruch auf Schließung der Deckungslücke ergeben könnte, ist angesichts gewichtiger verfassungsrechtlicher Bedenken die Deckungslücke in analoger Anwendung des § 26 Abs 2 S 1 Nr 2 Halbs 1 SGB 2 zu schließen. Danach besteht ein Anspruch auf vorläufige volle Übernahme der Beiträge zur privaten Krankenversicherung bis zur Hälfte des Basistarifes.

3. Die auch bei Nichtzahlung von Versicherungsbeiträgen nach § 193 Abs 6 S 5 VVG (juris: VVG 2008) gegebene Notversorgungspflicht gewährleistet keine ausreichende Gesundheitsversorgung, so dass aufgrund dieses gewichtigen Nachteils der Anordnungsgrund für den Erlass einer einstweiligen Anordnung zu bejahen ist.

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Karlsruhe vom 23. August 2010 (Versagung einstweiligen Rechtsschutzes) abgeändert.

Die Antragsgegnerin wird im Wege der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet, vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung zum einen Beitragsrückstände des Antragstellers in der privaten Krankenversicherung i.H.v. 811,13 € zu übernehmen, zum anderen dem Antragsteller zu seinen Beiträgen in der privaten Krankenversicherung einen weiteren Zuschuss für November 2010 i.H.v. 168,97 € zu gewähren.

Im übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller 9/10 seiner außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten.

 

Gründe

Die gemäß §§ 172, 173 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde des Antragstellers hat im Umfang des Beschlussausspruchs Erfolg.

Vorliegend wendet sich der Antragsteller in einem Zugunstenverfahren nach § 44 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) gegen die Höhe der ihm gewährten Beitragszuschüsse zu seiner privaten Krankenversicherung und begehrt nunmehr im Beschwerdeverfahren, dass die Antragsgegnerin im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zum einen die Beitragsrückstände im Zeitraum vom 1. Juli bis 31. Oktober 2010, zum anderen die tatsächlichen Kosten seiner privaten Krankenversicherung bis zur Hälfte des Basistarifes bis zum 30. November 2010, dem Ende des letzten Bewilligungsabschnitts, übernimmt.

Das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist in § 86b SGG geregelt, und zwar für Anfechtungssachen in Abs. 1 a.a.O., für Vornahmesachen in Abs. 2 a.a.O. Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache, soweit nicht ein Fall des Abs. 1 a.a.O. vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Satz 2 a.a.O.). Die Anträge nach § 86b Abs. 1 und 2 SGG sind bereits vor Klageerhebung zulässig (Abs. 3 a.a.O.).

Vorliegend kommt, wie vom Sozialgericht (SG) Karlsruhe zutreffend erkannt, nur eine Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG in Betracht. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt zunächst die Statthaftigkeit und Zulässigkeit des Rechtsbehelfs voraus. Die Begründetheit des Antrags wiederum hängt vom Vorliegen der Anordnungsvoraussetzungen ab, nämlich dem Anordnungsanspruch und dem Anordnungsgrund (ständige Rechtsprechung des Senats; vgl. z.B. Beschlüsse vom 1. August 2005 - L 7 AS 2875/05 ER-B - FEVS 57, 72 und vom 17. August 2005 - L 7 SO 2117/05 ER-B - FEVS 57, 164). Eine einstweilige Anordnung darf mithin nur erlassen werden, wenn beide Voraussetzungen gegeben sind. Dabei betrifft der Anordnungsanspruch die Frage der Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbe...

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