Entscheidungsstichwort (Thema)

Treuwidrige Kündigung. Maßregelungsverbot. Wartezeit. Betriebsratsanhörung. Kündigungsgrund. Kündigungsentschluss

 

Leitsatz (amtlich)

Voraussetzung für das Vorliegen einer ordnungsgemäßen Betriebsratsanhörung nach § 102 Abs. 1 BetrVG ist auch innerhalb des ersten Beschäftigungshalbjahres, dass der Arbeitgeber zusätzlich zum Kündigungsentschluss an sich einen, wenn auch subjektiv determinierten, Argumenten zugänglichen Kündigungsgrund für seinen Kündigungsentschluss angibt. Der rein formale Anlass/Auslöser für den Kündigungsentschluss – die Existenz eines Prozesses mit noch ungewissem Ausgang – ist nicht gleichzusetzen mit einem dem Betriebsrat in der Anhörung zu benennenden Kündigungsgrund. Er ist keinen Argumenten zugänglich. Fehlen eigenständige, vom Kündigungsentschluss an sich losgelöste Angaben zum Kündigungsgrund, ist die Betriebsratsanhörung auch im ersten Beschäftigungsjahr unvollständig und damit nach §§ 102 Abs. 1 BetrVG, 134 BGB unwirksam.

 

Normenkette

BertrVG § 102 I; BGB §§ 133-134, 157, 612a, 242

 

Verfahrensgang

ArbG Lübeck (Urteil vom 14.01.2004; Aktenzeichen 4 Ca 3759/03)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 22.09.2005; Aktenzeichen 6 AZR 607/04)

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichtes Lübeck vom 14.1.2004 – 4 Ca 3759/03 – abgeändert:

Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die fristgerechte Kündigung der Beklagten vom 10.10.2003 nicht aufgelöst worden ist.

Die Kosten des Rechtsstreits, einschließlich der Kosten erster Instanz werden der Beklagten auferlegt.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer aus Anlass einer Entfristungsklage vorsorglich ausgesprochenen fristgemäßen Kündigung innerhalb der ersten 6 Monate dieses Beschäftigungsverhältnisses und in diesem Zusammenhang u. a. um die Wirksamkeit der Betriebsratsanhörung.

Der Kläger ist 38 Jahre alt und stand in der Zeit von Juli 2000 bis 07. September 2003 mit größeren zeitlichen Abständen in 5 befristeten Arbeitsverhältnissen für Zeit 3 räume von knapp 2 Monaten bis max. 4 ½ Monaten. Er war jeweils als Maschinenarbeiter in der Produktion tätig, ausweislich der Arbeitsverträge überwiegend zum Zwecke der Urlaubsvertretung. Er wurde zuletzt nach Endgeltgruppe E 2 vergütet und erhielt durchschnittlich 2.700,00 EUR brutto monatlich. Der letzte Arbeitsvertrag war befristet für den Zeitraum vom 30.06.2003 bis zum 07.09.2003. Bezüglich dieses Arbeitsverhältnisses erhob der Kläger innerhalb der gesetzlichen Frist eine Entfristungsklage beim Arbeitsgericht Lübeck. Der Kläger obsiegte am 12.5.2004 erstinstanzlich vor dem Arbeitsgericht Lübeck unter dem Az. 4 Ca 3416/03. Das Urteil wurde mit der Entscheidung des Landesarbeitsgerichtes Schleswig-Holstein vom 03.11.2004, Az. 3 Sa 325/04, bestät igt.

Aus Anlass der Entfristungsklage kündigte die Beklagte am 10.10.2003 vorsorglich ein etwa bestehendes Arbeitsverhältnis fristgemäß zum 31.10.2003 (Bl. 10 d. A.). Zuvor hatte sie den bei ihr gebildeten Betriebsrat mit folgendem Schreiben angehört:

„Wir beabsichtigen Herrn M., geb. …, verheiratet, 3 Kinder,

… Eintritt 30.06.2003,

beschäftigt als Urlaubsvertretung SBB-Endfertigung bis zum 07. September 2003

fristgerecht zum nächstmöglichen Termin (14 Tage) zu kündigen.

Begründung

Herr M. war als Urlaubsvertretung vom 30.06.2003 bis zum 07.09.2003 beschäftigt.

Es liegt uns eine Klage von Herrn M. auf Feststellung eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses vor.

Ohne damit ein Arbeitsverhältnis anzuerkennen, beabsichtigen wir, Herrn M. vorsorglich fristgerecht zu kündigen.

G., den 02.10.2003

Unterschrift” (Bl. 19 f. d. A.).

Der Betriebsrat widersprach dieser Kündigung am 08.10.2003 u. a. mit der Begründung, er könne den Kündigungsgrund nicht nachvollziehen. Die Kündigung sei umso unverständlicher, als die Beklagte gerade für einen anderen Bereich der Mischerei/ Rohstoffbereitstellung 4 befristete Einstellungen beantragt habe. Im Übrigen könne der Kläger auch auf anderen freien Arbeitsplätzen im Unternehmen, u. a. auf 2 (konkret bezeichneten) Arbeitsplätzen als Maschinenführer eingesetzt werden (Bl. 22 d. A.). Die Beklagte sprach die Kündigung mit Schreiben vom 10.10.2003 aus, der Kläger reichte am 27.10.2003 beim Arbeitsgericht Lübeck die vorliegende Kündigungsschutzklage ein.

Das Arbeitsgericht Lübeck hat am 14.01.2004 die Klage mit der Begründung abgewiesen, die 6-monatige Wartezeit des Kündigungsschutzgesetzes sei nicht erfüllt, da die Beschäftigungszeiten nicht zusammengerechnet werden müssten. Die Betriebsratsanhörung sei ordnungsgemäß. Die Kündigung sei nur ausgesprochen worden, um das Risiko des Verlustes der Entfristungsklage zu begrenzen. Das sei der auch der Betriebsratsanhörung zu entnehmende Kündigungsgrund. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf das angefochtene erstinstanzliche Urteil Bezug genommen.

Gegen dieses am 18.03.2004 zugestellte Urteil legte der Kläger am 16.04.2004 Berufung ein, die nach Fristverlängerung innerhalb der gesetzten F...

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