Entscheidungsstichwort (Thema)

Recht der freien Meinungsäußerung und Persönlichkeitsverletzung von Repräsentanten des Arbeitgebers. Verletzung von Loyalitätspflichten und Abmahnungserfordernis

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Der Verdacht der Mitwirkung eines Arbeitnehmers an der Formulierung pauschal und klassenkämpferisch erhobener Vorwürfe gegen den Arbeitgeber, ohne als Autor oder presserechtlich Verantwortlicher ausgewiesen zu sein, ist nicht geeignet ohne weiteres eine ordentliche Kündigung eines im Übrigen weitgehend unbelasteten Arbeitsverhältnisses sozial zu rechtfertigen.

2. § 314 Abs. 2 BGB gebietet auch bei (unterstellten) Verstößen gegen arbeitsvertragliche Loyalitätspflichten vor Kündigungsausspruch seitens des Arbeitgebers grundsätzlich eine erfolglose Abmahnung.

3. Selbst wenn sich ein Arbeitnehmer einer Vertragspflichtverletzung schuldig gemacht hat, die die Vertrauensbeziehungen zum Arbeitgeber tangiert, so sind für die Beurteilung eines arbeitgeberseitigen Auflösungsantrags alle bis zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz maßgeblichen Umstände zu berücksichtigen.

 

Normenkette

KSchG § 1; BGB § 314 Abs. 2; GG Art. 5 Abs. 1 S. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Stuttgart (Urteil vom 15.10.2003; Aktenzeichen 2 Ca 13023/02)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 12.01.2006; Aktenzeichen 2 AZR 21/05)

 

Tenor

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Stuttgart vom 15.10.2003 – Aktenzeichen 2 Ca 12023/02 – wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

2. Die Revision zum Bundesarbeitsgericht wird für die Beklagte zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen verhaltensbedingten Arbeitgeberkündigung vom 04.12.2002 zum 30.06.2003 sowie eines hilfsweise gestellten Auflösungsantrages der Beklagten.

Der am 18.10.1956 geborene, verheiratete Kläger, Vater von drei Kindern im Alter von 15, 17 und 19 Jahren (bei Kündigungsausspruch), ist seit dem 13.01.1986 bei der Beklagten beschäftigt, zuletzt als M. in deren Stammwerk in S.-Z., wo weit mehr als 1000 Arbeitnehmer im Sinne des § 23 KSchG arbeiten. Er ist Mitglied der Gewerkschaft IG Metall und eines Solidaritätskreises „Einer für Alle – Alle für Einen”, zudem gewerkschaftlicher Vertrauensmann und steht der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands (MLPD) zumindest nahe.

Der streitbefangenen Kündigung liegt der Vorwurf der Beklagten zugrunde, verschiedene beleidigende und hetzerische Textstellen in diversen Flugblättern seien dem Kläger zuzurechnen. Dabei geht es um die Flugblätter „M.” („Zeitung von Kollegen für Kollegen bei P. Z.”) vom 22.07. und 22.08.2002 (Arbeitsgerichtsakte Blatt 38 bis 51), die Wochenzeitung „R. F.” der MLPD vom 30.08.2002 (Arbeitsgerichtsakte Blatt 36/37), ein Solidaritätskreis-Info vom 26.09.2002 (Arbeitsgerichtsakte Blatt 52/53) und das Flugblatt „S.” („Von Kollegen für Kollegen der D.-C.-Werksteile U., C., H. und M.”) vom 16.10.2002 (Arbeitsgerichtsakte Blatt 56 bis 59), die sich mit der Freistellung des vormaligen schwerbehinderten Mitarbeiters R. K. der Beklagten im Anschluss an „kämpferische” Redebeiträge auf Betriebsversammlungen im April 2002 vor dem Hintergrund der damals laufenden Tarifrunde und der Übergabe einer handschriftlichen Forderung nach einem Anti-Mobbing-Gesetz an die CDU-Bundesvorsitzende Angela Merkel anlässlich eines Besuches im Werk Z. der Beklagten sowie mit den Umständen des Zustandekommens eines Aufhebungsvertrages vor dem Integrationsamt befassen. Für die „M.”-Beiträge zeichnete verantwortlich im Sinne des Presserechts ein/eine P. B., H. 172, 70179 S.. An den Beitragsteil schloss sich jeweils ein Aufruf mit der Überschrift „Für die Rücknahme der Freistellung und Kündigungsandrohung gegen den Kollegen R. K.” an:

„Dem Kollegen R. K. wurde ab Montag, 15. Juli 2002 das Betreten des Werksgeländes verboten. Sein Werksausweis wurde eingezogen. Er wurde gegen seinen Willen unter Fortzahlung seines Lohnes vonder Arbeit freigestellt.

Die Geschäftsleitung begründet ihr Vorgehen mit einem „gestörten Vertrauensverhältnis”. Auf der letzten Betriebsversammlung wurde ihm die Kündigung angedroht.

Tatsache ist, dass der Kollege K. auf 2 Betriebsversammlungen seine Meinung äußerte.

Wir können diesen Angriff auf das Rederecht auf Betriebsversammlungen nicht hinnehmen! Wirfordern die sofortige Rücknahme der Freistellung und der Kündigungsandrohung!

Heute er – morgen wir! einer für Alle – Alle für Einen!

Name …

Anschrift …

Unterschrift …”

Es folgt sodann die Privatanschrift des Klägers sowie seine E-Mail-Adresse als Kontaktadresse für den Solidaritätskreis K..

Für den Textbeitrag unter der Überschrift „Von P. in die Zange genommen” in der „R. F.” zeichnete verantwortlich eine Frau D. J.. In einem grau unterlegten Feld am rechten unteren Rand des Flugblattes heißt es:

„Protest- und Solidaritätserklärungen an:

P. AG, P. 7, 70435 S., Fax: …

Kopien bitte an: S. c/o U. S., G. Weg 25,71254 D., E-Mail: … sowie an die ‚R. F.’”.

Auf der Schlussseite des Solidaritätskreis-Infos ist folgender ...

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