Entscheidungsstichwort (Thema)

Verwertungsverbot für neue Kündigungsgründe im laufenden Kündigungsschutzverfahren. Schuldhafte Nichtanzeige fortdauernder Arbeitsunfähigkeit als Kündigungsgrund. Keine bestimmte Anzahl an Abmahnungen für verhaltensbedingte Kündigung erforderlich. Berücksichtigung nachträglich eingetretener Umstände nur zur Erläuterung des Kündigungsgrundes. Darlegungspflicht des Arbeitnehmers bei Erfüllung der Anzeigepflicht nach § 5 Abs. 1 Satz 1 EFZG

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die schuldhafte Verletzung der sich aus § 5 Abs 1 Satz 1 EFZG ergebenden (Neben-)Pflicht zur unverzüglichen Anzeige der Fortdauer einer Arbeitsunfähigkeit kann - je nach den Umständen des Einzelfalls - einen zur Kündigung berechtigenden Grund im Verhalten des Arbeitnehmers i.S.v. § 1 Abs 2 Satz 1 KSchG darstellen.

2. Es gibt kein Mindestmaß an Abmahnungen, bevor ein Arbeitgeber eine sozial gerechtfertigte Kündigung aussprechen kann.

3. Nachträglich eingetretene Umstände können für die gerichtliche Beurteilung insoweit von Bedeutung sein, wie sie die Vorgänge, die zur Kündigung geführt haben, in einem neuen Licht erscheinen lassen.

 

Normenkette

KSchG § 1; EFZG § 5 Abs. 1 S. 1; ZPO § 138 Abs. 2

 

Verfahrensgang

ArbG Ulm (Entscheidung vom 18.10.2018; Aktenzeichen 8 Ca 355/17)

 

Tenor

  1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Ulm - Kammern Ravensburg - vom 18. Oktober 2018 - 8 Ca 355/17 - abgeändert:

    Die Klage wird vollen Umfangs abgewiesen.

  2. Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits.
  3. Die Revision wird nicht zugelassen.
 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung aus verhaltensbedingten Gründen.

Der Kläger war im Kündigungszeitpunkt 45 Jahre alt, ledig und wurde bei der Beklagten seit Oktober 2007 im Lagerversand eingesetzt. Dort war er mit der Kommissionierung der ca. 40.000 Ersatzteile beschäftigt. Er arbeitete von Montag bis Freitag. Seit Juli 2016 war er überwiegend durchgehend arbeitsunfähig krankgeschrieben. Davor verdiente er zuletzt 3.300,00 Euro brutto durchschnittlich.

In der Betriebsordnung der Beklagten heißt es auszugsweise:

"10.2 Erkrankung/Arbeitsausfall/Arbeitsverhinderung

Können Sie wegen Erkrankung oder aus einem anderen unvorhergesehenen Grund die Arbeit nicht aufnehmen, verständigen Sie bitte unverzüglich - am ersten Arbeitstag zum Beispiel telefonisch mit Angabe der Gründe und der voraussichtlichen Dauer - Ihren Vorgesetzten. Die Meldung an die Krankenkasse gilt nicht als Entschuldigung. ..."

In einem an den Kläger gerichteten Schreiben vom 9. November 2016 wies die Beklagte auf seine Mitteilungspflicht im Krankheitsfall hin (vgl. im Einzelnen Anlage B3, Bl. 53 ff. der erstinstanzlichen Akte). Der Kläger hat bestritten, das Schreiben erhalten zu haben.

Nach einer Betriebsvereinbarung vom 2. November 2016 - nachfolgend: BV 35/2016 - waren für verschiedene Bereiche am Standort F. die Tage vom 27. bis 30. Dezember 2016 als Betriebsschließung vereinbart. Ausgenommen waren u.a. die zum Bereitschaftsdienst eingeteilten Beschäftigten des Kundendienstes. Der Kläger war bis Freitag, den 16. Dezember 2016, arbeitsunfähig krankgeschrieben. Vom 19. bis 23. Dezember 2016 war ihm Urlaub gewährt worden. Ab dem 27. Dezember 2016 fehlte der Kläger. Die Beklagte mahnte den Kläger mit Schreiben vom 11. Januar 2017 ab, weil er vom 27. bis zum 30. Dezember 2016 ohne Angabe von Gründen nicht zur Arbeit erschienen sei, und mit Schreiben vom 10. und 15. März 2017, weil er seine Anzeigepflichten im Krankheitsfall verletzt habe. Die Folgearbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vom 22. Februar 2017 bzw. 8. März 2017 hätten dem Vorgesetzten nicht rechtzeitig vorgelegen.

Eine am Montag, dem 7. August 2017, um 11:08 Uhr an der Pforte abgegebene Bescheinigung über eine Fortdauer der Arbeitsunfähigkeit des Klägers über den 4. August 2017 hinaus erreichte seinen Vorgesetzten erst am 8. August 2017 nach Beginn der Kernarbeitszeit um 9.15 Uhr. Daraufhin hörte die Beklagte den Betriebsrat zu einer beabsichtigten Kündigung des Klägers am 23. August 2017 an. Der Betriebsrat widersprach der beabsichtigten Kündigung mit Schreiben vom 24. August 2017. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis der Parteien mit Schreiben vom 31. August 2017, dem Kläger am selben Tag zugegangen, zum 31. Dezember 2017.

Dagegen hat der Kläger fristgerecht die vorliegende Klage erhoben. Die Kündigung sei sozial ungerechtfertigt. Die ihm ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen habe die Beklagte stets rechtzeitig erhalten. Immer wenn er Krankmeldungen ausgestellt bekommen habe, habe er diese auch entweder abgegeben oder durch einen Kollegen rechtzeitig abgeben lassen. Er habe zudem immer rechtzeitig vorher versucht anzurufen. Er erinnere sich daran, dass das Telefon manchmal nicht abgenommen worden sei. Im Zeitraum vom 27. bis zum 30. Dezember 2016 habe er nicht unentschuldigt gefehlt. Er sei sich nicht sicher, ob er die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für diese drei Tage vorgelegt habe. Er sei aber durchgehend sei...

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