Entscheidungsstichwort (Thema)

Fortgeltung eines nachwirkenden Tarifvertrages zur Personalvertretung des fliegenden Personals bei Betriebsübergang. Unwirksame betriebsbedingte Kündigung eines Piloten bei unwirksamer Massenentlassungsanzeige aufgrund fehlender Unterrichtung der Personalvertretung

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die gesetzliche Anordnung der Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG betrifft alle Rechtsnormen und damit neben solchen über Inhalt, Abschluss und Beendigung von Arbeitsverhältnissen auch solche über betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen und über gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien.

2. Eine Rechtfertigung dafür, ohne Ablösung durch einen neuen Tarifvertrag eine bestehende tarifvertragliche Betriebsverfassung für das fliegende Personal (§ 117 Abs. 2 BetrVG) zur Auflösung zu bringen, ist nicht ersichtlich; die Herausnahme des fliegenden Personals aus der gesetzlichen Betriebsverfassung (§ 117 Abs. 1 BetrVG) mit der Möglichkeit, durch Tarifvertrag eine Vertretung zu errichten (§ 117 Abs. 2 BetrVG), hat seinen Grund und seine (auch verfassungsrechtliche) Rechtfertigung allein in den Besonderheiten der arbeitstechnischen Zwecksetzung des Flugbetriebs, dem es typischerweise an der Ortsgebundenheit fehlt.

3. Aufgrund einer europarechtskonformen Auslegung des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB gehört unter den Begriff der Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis, die durch Tarifvertrag geregelt sind, auch eine tarifvertragliche Einbettung des Arbeitsverhältnisses in eine funktionierende Personalvertretung.

4. Gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 23/2001/EG vom 12.03.2001 soll bei einem Betriebsübergang, bei dem die betriebliche Identität erhalten bleibt, auch die Rechtsstellung und die Funktion der Vertretung der vom Übergang betroffenen Beschäftigten unter den gleichen Bedingungen erhalten bleiben, wie sie vor dem Zeitpunkt des Übergangs auf Grund von Rechts- und Verwaltungsvorschriften und auch aufgrund einer Vereinbarung bestanden haben, sofern die Bedingungen für die Bildung der Arbeitnehmervertretung erfüllt sind; demnach sollen auch die durch Tarifvertrag begründeten Vertretungsorgane nach einem Betriebsübergang fortbestehen.

5. Besteht nach dem Betriebsübergang noch eine (nachwirkende tarifvertragliche) Grundlage für den Fortbestand der Personalvertretung, ist die Personalvertretung auch nach dem Betriebsübergang noch im Amt und vor Ausspruch der Kündigung gemäß § 17 Abs. 2 KSchG zu unterrichten; wird dies unterlassen, ist das Verfahren zur Massenentlassungsanzeige fehlerhaft und eine Kündigung im Rahmen der Massenentlassung unwirksam.

 

Normenkette

KSchG § 1 Abs. 2 S. 1 Alt. 3, § 17 Abs. 1 S. 1, Abs. 2-3; BetrVG § 117 Abs. 2; BGB § 613a Abs. 1 Sätze 1-2; TVG § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 5; Richtlinie 23/2001/EG Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Fassung: 2001-03-12; EGRL 23/2001 Art. 6 Abs. 3 Fassung: 2001-03-12

 

Verfahrensgang

ArbG Stuttgart (Entscheidung vom 17.12.2013; Aktenzeichen 25 Ca 3150/13)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 20.01.2016; Aktenzeichen 6 AZR 601/14)

 

Tenor

  • I.

    Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Stuttgart vom 17.12.2013 (25 Ca 3150/13) abgeändert:

    1. Es wird festgestellt, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht durch die Kündigung des Beklagten vom 22.04.2013 aufgelöst wurde.
    2. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens erster Instanz zu tragen.
  • II.

    Der Kläger hat die Kosten der Berufung zu tragen.

  • III.

    Die Revision wird für den Beklagten zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen arbeitgeberseitigen Kündigung.

Der am geborene, ledige und gegenüber einem Kind unterhaltsverpflichtete Kläger war seit 29.10.2007 beschäftigt als Verkehrsflugzeugführer bei der Fa. C. GmbH & Co. KG (nachfolgend: C.) auf der Grundlage eines Anstellungsvertrages vom 29.10.2007 (Bl. 9-11 d. ArbG-Akte). Der Kläger bezog zuletzt ein durchschnittliches monatliches Bruttoarbeitsentgelt in Höhe von 5.273,30 €.

Mit Wirkung zum 01.09.2012 ging das Arbeitsverhältnis in Folge eines Betriebsübergangs von der C. auf die O.E.G. GmbH (nachfolgend: O.) über. Die O. war eine der ältesten deutschen Regionalfluggesellschaften mit Sitz in B.. Mit Übernahme der C. wurde der administrative Verwaltungssitz der O. von B. nach F. verlegt und dort die Zentrale eingerichtet.

Bei der C. war bis zum Betriebsübergang für das Cockpitpersonal eine Personalvertretung gebildet. Diese Personalvertretung wurde gebildet auf der Grundlage eines Tarifvertrags über die Personalvertretung (TV-PV) im Sinne von § 117 Abs. 2 BetrVG, welcher als Firmentarifvertrag abgeschlossen wurde zwischen der C. und der Gewerkschaft Vereinigung Cockpit. Die Gewerkschaft Vereinigung Cockpit hatte diesen TV-PV jedoch bereits zum 31.12.2007 gekündigt gehabt. In einem gemeinsamen Unterrichtungsschreiben über den Betriebsübergang der C. zur O. vom 09.08.2012 (Bl. 39-47 d. LAG-Akte) führten die beiden Firmen gegenüber den Mitarbeitern unter Ziffer IV. 5. aus:

  • "5.

    Personalve...

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