BGB § 254; StVG § 7 § 9; StVO § 2 Abs. 4 S. 2 § 8 Abs. 4 S. 2

Leitsatz

1. Der den für seine Fahrtrichtung nicht freigegebenen Radweg benutzende Fahrradfahrer behält gegenüber aus untergeordneten Straßen einbiegenden Verkehrsteilnehmern das Vorfahrtsrecht.

2. Der Fahrradfahrer muss sich in diesen Fällen gem. § 9 StVG, § 254 Abs. 1 BGB ein anspruchsminderndes Mit- bzw. Eigenverschulden entgegenhalten lassen, weil er durch sein Verhalten gegen § 2 Abs. 4 S. 2 StVO verstoßen hat.

3. Der Verzicht auf einen Fahrradhelm begründet auch für einen Unfall aus dem Jahre 2013 keine Anspruchskürzung.

4. Die Verletzung des Vorfahrtsrechts und die Benutzung eines nicht für die konkrete Fahrtrichtung freigegebenen Radwegs rechtfertigt eine Haftungsverteilung von 1/3 zu 2/3 zu Lasten des die Vorfahrt verletzenden Kraftfahrers.

OLG Hamm, Urt. v. 4.8.2017 – 9 U 173/16

Sachverhalt

Die Kl. befuhr mit ihrem Fahrrad einen in ihrer Fahrtrichtung nicht mehr freigegebenen gemeinsamen Rad- und Gehweg. Sie beabsichtigte, nach links in die C-Straße einzubiegen. Im Einmündungsbereich der C-Straße mit der übergeordneten Q-Straße, die ab der Einmündung als L-Straße fortgeführt wird, stieß die Kl. mit dem von dem Bekl. zu 1 gesteuerten Pkw, der bei der Bekl. zu 2 haftpflichtversichert war, im Einmündungstrichter der C- und Q-Straße zusammen. Der Bekl. zu 1 hatte mit seinem Fahrzeug vor dem quer vor ihm verlaufenden Geh- und Radweg gestanden und beabsichtigte, nach rechts in die Q-Straße abzubiegen. Bei dem Zusammenstoß stürzte die Kl. auf die Motorhaube des Pkw und rutschte sodann das Fahrrad zwischen den Beinen auf die Straße. Die Kl. erlitt dabei schwerste Verletzungen.

Die Kl. hat den Ersatz ihrer erlittenen materiellen und immateriellen Schäden verfolgt. Das LG hat unter Ansetzung einer Mithaftung der Kl. durch Grund- und Teilurteil die Klage dem Grunde nach zu 80 % für gerechtfertigt erklärt.

Mit der Berufung verfolgt die Bekl. die vollständige Abweisung der Klage, die Kl. die vollständige Stattgabe dem Grunde nach.

Nach Einholung eines unfallanalytischen Gutachtens gelangte der Senat aufgrund der Berufung zu einer Mithaftungsquote der Kl. von 1/3.

2 Aus den Gründen:

"Die Berufung der Bekl. hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang teilweise Erfolg. Im Übrigen hat die weitergehende Berufung der Bekl. ebenso wie die Anschlussberufung der Kl. keinen Erfolg."

Die Bekl. haften der Kl. für den dieser entstandenen und bezifferten sowie den zukünftig noch entstehenden materiellen und immateriellen Schaden nach einer Haftungsquote von 2/3, da die Kl. mit Blick auf ihr eigenes unfallursächliches Verschulden lediglich im Umfang dieser Quote schadensersatzberechtigt ist.

1. Der Anspruch der Kl. ergibt sich aus den §§ 7 Abs. 1, 11 StVG; §§ 823 Abs. 1 und 2 BGB i.V.m. § 229 StGB; §§ 249, 253 BGB i.V.m. § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG.

Die Haftungsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 1 StVG sind erfüllt. Der Unfall ereignete sich bei Betrieb des Fahrzeugs des Bekl. zu 1. Der Unfall beruhte nicht auf höherer Gewalt i.S.d. § 7 Abs. 2 StVG. Eine Haftungsabwägung nach § 17 StVG findet nicht statt, weil die Kl. ihrerseits nicht mit einem Kfz, sondern mit einem Fahrrad am Unfall beteiligt war.

2. Der Bekl. zu 1 hat gegen § 8 StVO verstoßen.

2.1 Die Kl. war als Benutzerin der übergeordneten Q-Straße gegenüber dem Bekl. zu 1 vorfahrtsberechtigt. Sie hat das ihr grds. zustehende Vorfahrtsrecht gegenüber dem Bekl. zu 1 nicht dadurch verloren, dass sie den kombinierten Geh- und Radweg entgegen der Fahrtrichtung befahren hat, obwohl dieser für eine solche Nutzung in beiden Richtungen nicht freigegeben war. Ein Radfahrer behält auch dann sein Vorfahrtsrecht gegenüber kreuzenden und einbiegenden Fahrzeugen, wenn er verbotswidrig den linken von zwei vorhandenen Radwegen benutzt, der nicht gem. § 2 Abs. 4 S. 2 StVO für die Gegenrichtung freigegeben ist. (BGH v. 15.7.1986 – 4 StR 192/86 – [ … ], Saarl. OLG v. 17.4.2014 – 4 U 406/12 – [ … ]; OLG Hamm v. 26.3.1992 – 6 U 335/91 und 24.10.1996 – 6 U 68/96 – [ … ]; Senat v. 10.3.1995 – 9 U 208/94 – [ … ]). Die den vorgenannten Entscheidungen zugrundeliegende und auch im vorliegenden Fall gegebene identische Konstellation ist abzugrenzen von der 1981 ergangenen Entscheidung des BGH zu der Benutzung einer Einbahnstraße durch einen Radfahrer entgegen der vorgeschriebenen Fahrtrichtung und ohne Freigabe für die Gegenrichtung, vgl. BGH v. 6.10.1981 – VI ZR 296/79 – [ … ]. Ein solcher Fall liegt hier nicht vor.

2.2 Die von den Bekl. erstmals in der mündlichen Verhandlung beim LG aufgeworfene und mit der Berufungsbegründung wiederholte Fragestellung, ob der Bekl. zu 1 darauf habe vertrauen dürfen, dass die Kl. ihn zunächst passieren lassen würde, stellt sich nicht. Die Bekl. greifen zur Konstruktion einer eine Vertrauenssituation schaffenden Ausgangslage auf die Aussage der Zeugin N zurück, in der diese ihren Eindruck schildert, die Beteiligten hätten sich gegenseitig bemerkt, weil die Kl. ihre Fahrgeschwindigkeit in Annäherung an die Einmündung verlangsamt habe und der Mercedesfahrer ohne...

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