Leitsatz

  1. Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen Bußgeld aufgrund Klavierspielens an einem Sonntag, das vom Nachbar als störender Lärm empfunden wurde
  2. Zur Auslegung des unbestimmten Begriffs "erhebliche Ruhestörung" im Berliner Immissionsschutzgesetz
 

Normenkette

§§ 4, 15 Abs. 1 Nr. 4 Landes-Immissionsschutzgesetz Berlin; Art. 103 Abs. 2 GG

 

Kommentar

  1. Die Tochter einer musikbegeisterten Familie in Berlin übte jeden Tag am späten Nachmittag für etwa eine Stunde am Klavier, auch an einem Sonntag. Der sich gestört fühlende Nachbar rief daraufhin die Polizei. Auch der Polizeibeamte ging als Zeuge von einer Ruhestörung aus. Daraufhin setzte das zuständige Bezirksamt wegen eines vorsätzlichen Verstoßes gegen das Verbot, an Sonn- und Feiertagen Lärm zu verursachen, durch den jemand in seiner Ruhe erheblich gestört wird (§ 4 LImSchG Berlin) eine Geldbuße in Höhe von 75 EUR fest, die auf Einspruch des Beschwerdeführers vom Amtsgericht auf 50 EUR reduziert wurde. Das Kammergericht hat den weiteren Antrag des Beschwerdeführers auf Zulassung der Rechtsbeschwerde verworfen. Das Bundesverfassungsgericht hat auf entsprechende Verfassungsbeschwerde das Urteil des Amtsgerichts aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht zurückverwiesen.
  2. Der Beschwerdeführer wurde hier nach Meinung der 3. Kammer des Ersten Senats in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 103 Abs. 2 GG verletzt, da die Regelungen im Immissionsschutzgesetz Berlin in nicht verfassungsgemäßer Weise angewendet wurden (Art. 103 Abs. 2 GG:"Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde."). Bei der vom Amtsgericht vorgenommenen Rechtsanwendung im vorliegenden Fall ist für den Normadressaten nicht hinreichend erkennbar, wann das Musizieren in der eigenen Wohnung an Sonn- und Feiertagen eine "erhebliche Ruhestörung" i.S.v. § 4 LImSchG Bln darstellt.

    Art. 103 Abs. 2 GG enthält ein besonderes Bestimmtheitsgebot, das den Gesetzgeber verpflichtet, die Voraussetzungen der Strafbarkeit oder Bußgeldbewehrung so konkret zu umschreiben, dass jeder erkennen kann, welches Verhalten der Gesetzgeber unter Sanktion stellt. Vorliegend wurde der Beschwerdeführer in seinem grundrechtsgleichen Recht aus diesem Artikel des GG verletzt. Es durfte nicht allein auf der Grundlage der Aussagen eines Nachbarn und des hinzugerufenen Polizeibeamten von erwiesener Ruhestörung ausgegangen werden. Auch das Amtsgericht hat keinen Versuch unternommen, den normativen Gehalt des auslegungsbedürftigen Begriffs "erhebliche Ruhestörung" zu erfassen und dieses Tatbestandsmerkmal auch im Hinblick auf das Musizieren in der eigenen Wohnung begrifflich zu präzisieren. Die Entscheidung hierüber wurde vielmehr allein dem als Zeugen vernommenen Polizeibeamten überlassen. Dabei entstehen Ungewissheiten zu den tatbestandlichen Voraussetzungen der Bestimmungen des Immissionsschutzgesetzes Berlin, was den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG nicht Genüge leistet. Unter Zugrundelegung der Rechtsauffassung des Amtsgerichts wird die Entscheidung über die Sanktionsbedürftigkeit eines Verhaltens nicht generell-abstrakt durch den Gesetzgeber, sondern durch die vollziehende Gewalt für den konkreten Einzelfall getroffen. Damit hat das Amtsgericht die landesgesetzlichen Vorschriften jedenfalls in einer Weise angewendet, die mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist. Dabei kann dahinstehen, ob der Ordnungswidrigkeitentatbestand als solcher in § 4 und § 15 Abs. 1 Nr. 4 des Landesimmissionsschutzgesetzes Berlin als solcher den Anforderungen von Art. 103 Abs. 2 GG genügt.

Anmerkung

Die Entscheidung betraf eine Reihenhausanlage, kann aber auch in einer konventionellen Eigentumswohnanlage gleichermaßen zur Diskussion stehen und ebenso zur Anwendung gelangen. Ob Musik über Tonträger, eigenes Singen bzw. Musizieren als ruhestörender Lärm oder gar "erhebliche Ruhestörung" aufzufassen ist, wird auch im Wohnungseigentumsrecht gerade bei minderer Schallschutzqualität der Bausubstanz stets im Streitfall einer gerichtlichen Einzelfallentscheidung überantwortet bleiben müssen. Wie schwer die Formulierungen angemessener Regelungen auch in einer Hausordnung sein können, lässt sich durchaus auch aus der letzten Fortschreibung von Kollegen Drabek zu Gruppe 5, Rn. 334 ff. erkennen, dort auch unter Hinweis auf die einschlägige Beschlussentscheidung des BGH vom 10.9.1998, V ZB 11/98 (NJW 1998 S. 3713 = ZMR 1999 S. 41). Im Wohnungseigentumsrecht ist – je nach Einzelfall – bei Regelungen zur Beschränkung des Musizierens auch zwischen alleiniger Anfechtbarkeit und unter Umständen sogar möglicher Nichtigkeit der Regelung und Beschlussfassung hierüber zu differenzieren.

 

Link zur Entscheidung

BVerfG, Beschluss v. 17.11.2009, 1 BvR 2717/08

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