Leitsatz (amtlich)

1. Ein Pflichtverteidigerwechsel ist auch ohne wichtigen Grund ausnahmsweise zulässig und aus Gründen der gerichtlichen Fürsorgepflicht dann auch geboten, wenn der bisherige Pflichtverteidiger damit einverstanden ist, die Beiordnung des neuen Verteidigers keine Verfahrensverzögerung zur Folge hat und mit dem Verteidigerwechsel keine Mehrbelastung für die Staatskasse verbunden ist.

2. Ein Gebührenverzicht des (alten oder neuen) Pflichtverteidigers zur Vermeidung einer Mehrbelastung für die Staatskasse ist zulässig.

 

Verfahrensgang

LG Berlin (Entscheidung vom 27.07.2016; Aktenzeichen (513) 261 Js 6039/15 Ls Ns (37/16))

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Angeklagten wird der Beschluss des Landgerichts Berlin vom 27. Juli 2016 aufgehoben.

Dem Angeklagten wird - unter Widerruf der Bestellung von Rechtsanwalt Fl - Rechtsanwalt Dr. Fi aus Berlin als Pflichtverteidiger beigeordnet.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Beschwerdeführer insoweit entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Landeskasse Berlin.

 

Gründe

I.

Gegen den Beschwerdeführer ist zurzeit ein Berufungsverfahren bei der Jugendkammer des Landgerichts Berlin anhängig. Er befindet sich aufgrund eines Haftbefehls des Amtsgerichts Tiergarten vom 9. Dezember 2015, der durch einen Haftbefehl desselben Gerichts vom 19. April 2016 ersetzt wurde, seit dem 6. April 2016 in Untersuchungshaft. Nachdem er auf Anfrage innerhalb der ihm gesetzten Wochenfrist keinen Rechtsanwalt benannt hatte, bestellte ihm der Ermittlungsrichter bei dem Amtsgericht Tiergarten am 18. April 2016 gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO (in Verbindung mit §§ 68 Nr. 1, 109 Abs. 1 Satz 1 JGG) Rechtsanwalt Fl als Pflichtverteidiger, der in der Folgezeit auch für ihn auftrat.

Mit Schriftsatz vom 25. April 2016, eingegangen am 26. April 2016, meldete sich Rechtsanwalt Dr. Fi aufgrund einer ihm am 23. April 2016 erteilten Vollmacht als Verteidiger für den Beschwerdeführer. Er nahm am 12. Mai 2016 Akteneinsicht und teilte auf gerichtlichen Hinweis, dass dem (damals) Angeschuldigten bereits ein Verteidiger beigeordnet worden war, am 18. Mai 2016 mit, dass das ihm erteilte Mandat als Wahlmandat weitergeführt werde, er jedoch den beigeordneten Rechtsanwalt Fl um Mitteilung gebeten habe, ob seinerseits eine Auswechslung des Pflichtverteidigers - mit der Maßgabe, dass die Gebühren und Auslagen nur einmal entstehen und entsprechende Verzichtserklärungen abgegeben werden - in Betracht komme; dies entspreche dem Wunsch des Angeklagten, den er am 14. Mai 2016 erneut in der Justizvollzugsanstalt besucht habe. Nachdem weitere Erklärungen von Seiten der Verteidiger nicht eingegangen waren, wies das Amtsgericht beide Rechtsanwälte im Zusammenhang mit der Ladung zur Hauptverhandlung darauf hin, dass es die Beiordnung von Rechtsanwalt Fl bisher nicht aufgehoben habe, da keine eindeutige Erklärung von Rechtsanwalt Dr. Fi vorliege, dass er als Wahlverteidiger auftreten wolle, und für eine Auswechslung des Pflichtverteidigers derzeit keine Gründe erkennbar seien. Rechtsanwalt Dr. Fi teilte daraufhin mit, dass er - in Abstimmung mit Rechtsanwalt Fl - im Hauptverhandlungstermin am 14. Juni 2016 nicht auftreten werde. Der Angeklagte wurde in der Hauptverhandlung allein durch Rechtsanwalt Fl verteidigt. Gegen das am 14. Juni 2016 ergangene Urteil des Amtsgerichts, durch das gegen den Angeklagten wegen Diebstahls in 19 Fällen eine Jugendstrafe von einem Jahr verhängt wurde, legten beide Verteidiger Berufung bzw. ein später als Berufung konkretisiertes Rechtsmittel ein.

Mit Schriftsatz vom 11. Juli 2016 teilte Rechtsanwalt Fl mit, dass sich Rechtsanwalt Dr. Fi erneut wegen einer Auswechslung des Pflichtverteidigers bei ihm gemeldet habe. Der Angeklagte sei aufgrund des aus seiner Sicht wenig erfreulichen Ausgangs der erstinstanzlichen Hauptverhandlung "wohl" erneut - nunmehr "wegen der Berufungsinstanz" - an Rechtsanwalt Dr. Fi herangetreten und wolle (nach dessen Auskunft) künftig allein von diesem verteidigt werden. Hiergegen bestünden aus seiner (Rechtsanwalt Fl's) Sicht keine Bedenken. Er werde für die Berufungsinstanz keine Gebühren geltend machen. Nachdem die Akten am 11. Juli 2016 bei der zuständigen Berufungskammer des Landgerichts Berlin eingegangen waren, beraumte die Vorsitzende am 14. Juli 2016 Termin zur Berufungshauptverhandlung auf den 23. August 2016 an und vermerkte, dass Rechtsanwalt Fl vorerst nicht entpflichtet werden solle, da es aufgrund der wirtschaftlichen Situation des Angeklagten unwahrscheinlich sei, dass dieser seinen Wahlverteidiger (Rechtsanwalt Dr. Fi) bezahlen könne. Am 26. Juli 2016 beantragte Rechtsanwalt Dr. Fi im Namen des Angeklagten seine Beiordnung als Pflichtverteidiger unter Entpflichtung des bisherigen Pflichtverteidigers Rechtsanwalt Fl "mit der Maßgabe, dass die Gebühren und Auslagen nur einmal entstehen und entsprechende Verzichtserklärungen abgegeben werden", und nahm auf das vorbezeichnete Schreiben des Rechtsanwalts Fl vom 11. Juli 2016 mit dessen Einverständniser...

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