Entscheidungsstichwort (Thema)

Medizinische Rehabilitation. Zuzahlungsrichtlinien des Trägers der gesetzlichen Rentenversicherung. Befreiung von der Zuzahlungspflicht. Ermessensausübung. sozialversicherungsrechtliches Netto-Erwerbseinkommen. kein Abzug von Werbungskosten

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die vom Träger der gesetzlichen Rentenversicherung erlassenen "Richtlinien für die Befreiung von der Zuzahlung bei Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und sonstigen Leistungen zur Teilhabe" vom 19.8.2005 (Zuzahlungsrichtlinien) stehen als ermessensleitende und norminterpretierende Verwaltungsvorschrift im Einklang mit dem Gesetz.

2. Die Zuzahlungsrichtlinien binden das den Trägern der gesetzlichen Rentenversicherung durch § 32 Abs 4 SGB 6 eingeräumte Ermessen nur für den typischen Regelfall, während in besonders gelagerten Fallkonstellationen eine weitere individuelle Ermessensausübung erforderlich ist.

3. Die Anknüpfung der in den Zuzahlungsrichtlinien geregelten Befreiungstatbestände an den sozialversicherungsrechtlichen Begriff des Netto-Erwerbseinkommens ist rechtlich nicht zu beanstanden. Einkommenssteuerrechtlich relevante Werbungskosten, die über den beim Lohnsteuerabzug einzubehaltenden Werbungskostenpauschbetrag hinausgehen - sind insoweit nicht zu berücksichtigen.

 

Normenkette

SGB VI § 32 Abs. 4, 1 S. 2, Abs. 3; Zuzahlungsrichtlinien RV §§ 1, 2 Abs. Nr. 1, Abs. 2, §§ 3, 5 S. 3; SGB I §§ 9, 33 S. 1, § 39 Abs. 1 Sätze 1-2; SGB IV § 14 Abs. 1 S. 1, § 18 Abs. 1; EStG §§ 9, 9a S. 1 Nr. 1 Buchst. a, b, § 32 Abs. 4 S. 1 Nrn. 1-2, § 39b Abs. 1, 2 Sätze 1, 5 Nr. 1; RVO § 1243 Abs. 5; SGB III § 140 Abs. 3 S. 3 Fassung: 2011-12-20

 

Tenor

I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 29. Februar 2012 wird zurückgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Befreiung der Klägerin von der Pflicht zur Leistung einer Zuzahlung in Höhe von 10,00 € kalendertäglich zu den Kosten einer in Anspruch genommenen stationären Leistung zur medizinischen Rehabilitation.

Die 1952 geborene Klägerin ist geschieden und Mutter von zwei erwachsen Kinder im Alter von 39 und 40 Jahren. Sie arbeitet seit 1986 als Erzieherin in einer Kindertagesstätte.

Am 30. April 2008 beantragte die Klägerin die Gewährung einer stationären Leistung zur medizinischen Rehabilitation. Nach anfänglicher Ablehnung der beantragten Teilhabeleistung (Bescheid vom 8. Mai 2008) bewilligte die Beklagte im Rahmen des Widerspruchsverfahrens durch Bescheid vom 7. Oktober 2008 eine stationäre Leistung zur medizinischen Rehabilitation für die Dauer von 6 Wochen im XY. Klinikum X-Stadt - Klinik für psychosomatische Medizin. Der Bescheid enthielt u. a. den Hinweis auf die Pflicht zur Leistung einer Zuzahlung in Höhe von 10,00 € pro Kalendertag bei Inanspruchnahme der Rehabilitationsleistung. Der Zuzahlungsbetrag sei in der Rehabilitationseinrichtung zu entrichten. Hinsichtlich der Möglichkeit einer (teilweisen) Befreiung von der Zuzahlungspflicht verwies die Beklagte auf das bei der gesetzlichen Krankenkasse, beim Versicherungsamt sowie den Auskunfts- und Beratungsstellen der Deutschen Rentenversicherung oder auf deren Internetseite erhältliche Antragsformular G160.

Die Beklagte erbrachte die bewilligte Rehabilitationsleistung in der Zeit vom 16. Dezember 2008 bis 27. Januar 2009. Zuzahlungen hierfür leistete die Klägerin ausweislich der Mitteilung des XY. Klinikum X-Stadt vom 22. Dezember 2008 nicht. Die Klägerin erhielt für die Dauer der Rehabilitationsmaßnahme kein Übergangsgeld.

In der Folge beantragte die Klägerin am 30. März 2009 die Befreiung von der Zuzahlung bei stationären Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und legte zum Nachweis ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse die Verdienstabrechnung für Oktober 2008 vor, in der ein Nettoarbeitsentgelt von 1.008,58 € ausgewiesen wurde. Auf Veranlassung der Beklagten reichte sie eine Verdienstbescheinigung für den Monat März 2008 nach, ausweislich derer das Nettoarbeitsentgelt in diesem Monat 1.016,32 € betrug.

Nach Prüfung dieser Unterlagen lehnte die Beklagte den klägerischen Antrag auf Zuzahlungsbefreiung durch Bescheid vom 28. April 2009 mit der Begründung ab, die Klägerin erfülle nicht die Voraussetzungen für eine vollständige oder teilweise Befreiung von der Zuzahlungspflicht, wie sie sich aus den von der Beklagten erlassenen “Richtlinien für die Befreiung von der Zuzahlung bei Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und sonstigen Leistungen zur Teilhabe„ (Zuzahlungsrichtlinien) ergeben. Insbesondere liege ihr zu berücksichtigendes Einkommen über dem für die vollständige Befreiung maßgebenden Grenzbetrag von 994,00 €.

Hiergegen erhob die Klägerin am 4. Juni 2009 Widerspruch und machte geltend, von dem zugrunde gelegten Nettoarbeitsentgelt seien noch die von den Finanzbehörden einkommensmindernd berücksichtigten Beträge - namentlich die Werbungskosten - in Abzug zu bringen, weil die...

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