Entscheidungsstichwort (Thema)

Versicherungspflicht. Geringfügige Beschäftigung. Beitragspflicht. Verjährung. Verwirkung. Vertrauenstatbestand. Meldepflicht. Schadensersatzanspruch. Arbeitnehmeranteil

 

Leitsatz (redaktionell)

Verwirkung einer Beitragsforderung setzt voraus, dass der Beitragsberechtigte die Ausübung seines Rechts während eines längeren Zeitraums unterlassen hat und dass der Verpflichtete aufgrund eines konkreten Verhaltens des Forderungsberechtigten darauf vertrauen durfte und auch tatsächlich darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr besteht oder nicht mehr geltend gemacht wird, so dass die verspätete Geltendmachung ihm gegenüber als illoyal und nicht zumutbar erscheinen würde.

 

Normenkette

SGB IV § 8 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 S. 1, §§ 22, 25 Abs. 1 S. 1, § 28e Abs. 1, §§ 28g, 104; SGB V § 5 Abs. 1 Nr. 1; SGB VI § 1 S. 1 Nr. 1; SGB X §§ 45, 48; SGB XI § 20 Abs. 1 S. 1; AFG § 168 Abs. 1 S. 1, § 169a; BGB § 242; SGG §§ 183, 197a

 

Verfahrensgang

SG Wiesbaden (Aktenzeichen S 2 KR 228/00)

 

Tatbestand

I.

Die Beteiligten streiten über eine Beitragsnachforderung der Beklagten in Höhe von 9.337,12 DM (4.773,99 EUR).

Die Klägerin betreibt ein Gebäude- und Industriereinigungsunternehmen. Der Beigeladene zu 4. war von ihr für den Zeitraum vom 1. Januar 1995 bis zum 31. Dezember 1998 bei der Beklagten als geringfügig beschäftigt gemeldet worden.

Mit Schreiben vom 11. November 1998 teilte die Beklagte der Klägerin mit, sie habe von dem Verband der Rentenversicherungsträger erfahren, dass für den Beigeladenen zu 4. ein weiteres geringfügiges Beschäftigungsverhältnis ab dem 1. August 1994 bestehe, und bat um Mitteilung der Entgelte aus der Beschäftigung des Beigeladenen zu 4. bei der Klägerin. Mit Bescheid vom 21. Januar 1999 teilte die Beklagte sodann mit, die beiden geringfügigen Beschäftigungen seien zusammenzurechnen und würden damit die Entgeltgrenze für eine geringfügige Beschäftigung überschreiten, so dass Versicherungspflicht des Beigeladenen zu 4. zur Kranken-, Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung für den Zeitraum vom 1. Januar 1995 bis zum 31. Dezember 1998 vorliege. Für diesen Zeitraum forderte die Beklagte von der Klägerin insgesamt einen Beitrag in Höhe von 9.337,12 DM nach.

Die Klägerin legte mit Schreiben vom 27. Mai 1999 Widerspruch ein und machte geltend, sie habe darauf vertrauen dürfen, dass eine „Kollision” mit anderen geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen aufgrund der von ihr vorgelegten Meldung von der Beklagten erkannt und nach mindestens vier bis sechs Wochen mitgeteilt würde. Eine Nachforderung nach vier Jahren verstoße gegen die Grundsätze eines fairen rechtsstaatlichen Verfahrens und sei grob unbillig.

Mit Widerspruchsbescheid vom 10. Februar 2000 wies die Beklagte den Widerspruch mit der Begründung zurück, Beitragsansprüche würden gemäß § 22 Sozialgesetzbuch Viertes Buch – Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung – SGB IV kraft Gesetzes entstehen, es sei nicht erforderlich, dass der Arbeitgeber über Tatsachen informiert sei, die die Beitragspflicht begründeten und unerheblich, ob der Klägerin der Umstand der Mehrfachbeschäftigung bekannt gewesen sei.

Die Klägerin hat 10. März 2000 Klage beim Sozialgericht Wiesbaden erhoben und vorgetragen, sie habe den Beigeladenen zu 4. bei der Einstellung danach befragt, ob er bereits anderweitig beschäftigt sei und ein weiteres Beschäftigungsverhältnis als geringfügig Beschäftigter habe. Dies habe der Beigeladene zu 4. indes verneint. In einem derartigen Fall sei es schlicht unbillig, allein der Klägerin die Beitragsnachzahlung aufzuerlegen, zumal der hierfür extra eingeführte „Kontrollmechanismus” offensichtlich versagt habe.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 22. Januar 2002 abgewiesen und in den Entscheidungsgründen im Wesentlichen ausgeführt, der Beitragsanspruch sei mit dem Vorliegen der im Gesetz bestimmten Voraussetzungen und unabhängig von der Kenntnis der Klägerin gemäß § 22 SGB IV entstanden. Selbst durch grob pflichtwidriges und möglicherweise strafbares Verhalten des Arbeitnehmers werde der Arbeitgeber von seiner öffentlich-rechtlichen Pflicht zur Zahlung der Gesamtsozialversicherungsbeiträge nicht frei.

Gegen das ihr am 15. März 2002 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 2. April 2002 Berufung beim Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt eingelegt und im Wesentlichen vorgetragen, da der Arbeitgeber keinerlei Einfluss auf die Verarbeitung und Kontrolle der Daten habe, die aufgrund der vorgeschriebenen Meldung an die Sozialversicherungsträger weitergegeben werden müssten, müsse er sich darauf verlassen dürfen, dass diese Daten von der Beklagten zeitnah und sachgerecht bearbeitet und eventuelle Diskrepanzen kurzfristig erkannt und aufgegriffen würden. Nach einem Zeitraum von vier Jahren müsse der Arbeitgeber nicht mehr damit rechnen, dass Doppelmeldungen vorliegen würden. Es sei keinesfalls sachgerecht und hinzunehmen, dass der Klägerin allein das Risiko einer Mehrfachbeschäftigung aufgebürdet werde, zumal di...

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