Rz. 3

Unter dem Gesichtspunkt, dass es das Ziel der EU ist, eine vollständige Freizügigkeit betreffend gerichtlicher Entscheidungen der Mitgliedsstaaten zu erreichen und damit der Vollstreckbarerklärung (Exequatur) den Boden zu entziehen, sind die Vollstreckbarerklärungen nach den §§ 722, 723 ZPO in der forensischen Praxis die Ausnahme. Die Zivilprozessordnung regelt die Vollstreckung ausländischer Titel nur subsidiär, nämlich soweit nicht EG-Verordnungen und multi- oder bilaterale Abkommen speziellere Regeln enthalten (KG, FamRZ 1998, 383 = InVo 1998, 256). Nach der Übergangszeit gemäß dem Austrittsabkommen sind die europäischen Regelungen seit dem 1.1.2021 und auch die zuvor mit Großbritannien geschlossenen Abkommen nicht mehr anwendbar. Deshalb bekommen die Bestimmungen der §§ 722, 723 ZPO im Verhältnis zwischen Deutschland und Großbritannien wieder eine größere Bedeutung.

Die Europäische Union hat am 12.12.2012 die Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. L 351 v. 20.12.2012, S. 1; im Folgenden: Brüssel-Ia-Verordnung) verabschiedet. Die Verordnung findet ab dem 10.1.2015 in 27 EU-Mitgliedstaaten sowie mittelbar auch im Verhältnis zu Dänemark Anwendung. Sie ersetzt die Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. L 12 v. 16.1.2001, S. 1; im Folgenden: Brüssel-I-Verordnung). Dadurch entfällt insbesondere das Vollstreckbarerklärungsverfahren, das bislang der Vollstreckung ausländischer Titel vorgeschaltet ist. Die Neuregelung gilt in der Bundesrepublik Deutschland unmittelbar. Durch das Gesetz zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 sowie zur Änderung sonstiger Vorschriften vom 08. Juni 2014 wurden Regelungen zur Durchführung der Brüssel-Ia-Verordnung beschlossen (BGBl. I S. 890). Die maßgeblichen Vorschriften regeln den Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen in der Europäischen Union und sind in das 11. Buch der Zivilprozessordnung eingefügt worden (Abschnitt 7 Anerkennung und Vollstreckung nach der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012; §§ 1110 bis 1117). Der Gesetzgeber hat damit von einer Verankerung dieser Bestimmungen im Anerkennungs- und Vollstreckungsausführungsgesetz (AVAG) Abstand genommen, weil das AVAG-Vollstreckbarerklärungsverfahren mit der Geltung der neuen EU-Verordnung insoweit entfällt. Die Regelungen des AVAG sind entsprechend angepasst.

Im Unterschied zur bisherigen Rechtslage entfällt mit Inkrafttreten der neuen Verordnung das sogenannte Vollstreckbarkeiterklärungsverfahren. Bislang mussten Gläubiger, die ihren zivilrechtlichen Titel in einem anderen Mitgliedstaat vollstrecken wollten, diesen im Vollstreckungsstaat zunächst für vollstreckbar erklären lassen, bevor sie zur eigentlichen Zwangsvollstreckung übergehen konnten. Dieser Zwischenschritt entfällt künftig für alle Urteile, gerichtlichen Vergleiche und öffentlichen Urkunden, die in den Anwendungsbereich der neuen Verordnung fallen. Die neue Verordnung gilt für weite Bereiche des Zivil- und Handelsrechts ab dem 10. Januar 2015. Für die Anwendbarkeit der neuen Vorschriften kommt es auf den Zeitpunkt der Errichtung des Titels bzw. auf den Zeitpunkt der Einleitung des zugrunde liegenden gerichtlichen Verfahrens an.

Das neue Verfahren bietet für Gläubiger in grenzüberschreitenden Fällen erhebliche Erleichterungen. Sie können sich künftig im Vollstreckungsstaat unmittelbar an die zuständigen Vollstreckungsorgane wenden. Darüber hinaus ist in einfach gelagerten Fällen eine Übersetzung des gesamten Titels – einschließlich der Begründung – entbehrlich. Ausreichend ist im Regelfall die Vorlage der im Ursprungsstaat ausgestellten Bescheinigung sowie gegebenenfalls eine Übersetzung derselben. Aus der Bescheinigung lassen sich die für die Vollstreckung relevanten Angaben ersehen.

Die Rechte der Schuldner werden allerdings auch verbessert. Die Vollstreckung einer Entscheidung kann künftig auf Antrag des Schuldners versagt werden, sofern im Ursprungsstaat wesentliche Verfahrensgrundsätze verletzt wurden oder die Vollstreckung der Entscheidung der öffentlichen Ordnung (ordre public) des Vollstreckungsstaats offensichtlich widersprechen würde.

Bestehen derartige Abkommen, sind die in ihnen enthaltenen Regeln für die deutsche Rechtspraxis durch das AVAG (vgl. den Überblick von Geimer, NJW 1988, 2157) und diejenigen sonstigen Ausführungsgesetze, die durch das AVAG nicht außer Kraft gesetzt wurden (§ 35 AVAG), transformiert. In der Mehrzahl der multi- oder bilateralen Abkommen finden sich Regeln jeweils nur für bestimmte Gruppen von Titeln, getrennt etwa nach ihrem materiellen Inhalt (z. B. für Unterhaltstitel, AUG) oder nach der Art ihres Zustandekommens (z. B. Kostenentscheidungen in bestimmten Verfahren, Schiedssprüche). Aus diesem Grund kommen für bestimmte Staaten (je nach Art des Titels) unterschiedli...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge