Zurückverweisung wegen Verfahrensfehler

Der BGH hat die Entscheidung des LG schon aus formalen Gründen aufgehoben. Die Anhörung der Schuldnerin war allein durch die Berichterstatterin erfolgt. Auf deren Wahrnehmungen und Feststellungen beruhte die Entscheidung. Zwar sieht der BGH die grundsätzliche Möglichkeit der Anhörung durch einen beauftragten oder ersuchten Richter. Dies komme aber nicht in Betracht, wenn Gesichtspunkte eine Rolle spielten, die nur aufgrund eines unmittelbaren Eindrucks von der Anhörung zutreffend beurteilt werden können.

 

Hinweis

Das Ergebnis dieses Verfahrensfehlers ist die Zurückweisung des Verfahrens und die Wiederholung der Anhörung mit erneuter Entscheidung. Das verzögert das Verfahren weiter erheblich, nachdem der Gläubiger schon 18 Monate lang die in der Zwangsversteigerung erworbene Immobilie nicht nutzen konnte. Der Bevollmächtigte des Gläubigers sollte deshalb in Räumungsverfahren stets darauf drängen, dass eine Anhörung durch die gesamte Kammer erfolgt.

Grundsätze für Räumungsaufschub trotzdem geklärt

Der BGH hat dem LG aber eine "Segelanweisung" für das weitere Verfahren gegeben. Sie zeigt, wie sich der Gläubiger auf Schutzanträge nach § 765a ZPO einstellen kann. Ausgangspunkt ist eine umfassende Abwägung.

Ist mit einer Zwangsvollstreckungsmaßnahme eine konkrete Gefahr für Leben und Gesundheit des Schuldners verbunden, so kann dies die Untersagung oder einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung nach § 765a ZPO rechtfertigen. Dabei ist aber stets eine Abwägung der Interessen des Schuldners mit den Vollstreckungsinteressen des Gläubigers vorzunehmen. Es kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass sich auch der Gläubiger auf Grundrechte berufen kann. Ist sein Räumungstitel nicht durchsetzbar, wird sein Grundrecht auf Schutz seines Eigentums (Art. 14 Abs. 1 GG) und auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) beeinträchtigt. Dem Gläubiger dürfen keine Aufgaben aufgebürdet werden, die nach dem Sozialstaatsprinzip dem Staat und damit der Allgemeinheit obliegen.

 

Hinweis

Es obliegt gleichwohl dem Gläubiger, die besondere Bedeutung des titulierten Anspruchs für ihn herauszuarbeiten. So kann auf die notwendige Selbstnutzung oder den fortdauernden wirtschaftlichen Schaden verwiesen werden. Auch ein Verfall oder Sicherheitsaspekte können relevant sein.

Erst einmal sind Schuldner und Behörden gefragt

Wenn bei einer Räumungsvollstreckung eine konkrete Lebensgefahr für einen Betroffenen besteht, ist sorgfältig zu prüfen, ob dieser Gefahr nicht auf andere Weise als durch Einstellung der Zwangsvollstreckung wirksam begegnet werden kann. Dabei kann vom Schuldner erwartet werden, dass er alles ihm Zumutbare unternimmt, um Gefahren für Leben und Gesundheit möglichst auszuschließen. Eine Einstellung der Zwangsvollstreckung auf unbestimmte Zeit in derartigen Fällen ist auf absolute Ausnahmefälle beschränkt (BVerfG NJW-RR 2014, 583; BGH NJW 2014, 2288). Ein solcher Ausnahmefall ist nicht schon dann gegeben, wenn die Voraussetzungen für eine befristete Einstellung vorliegen und die Aussichten auf eine Besserung des Gesundheitszustands gering sind. Vielmehr muss die Prognose ergeben, dass eine Verringerung der Suizidgefahr auch unter Berücksichtigung einer etwaigen Mitwirkung des Schuldners und staatlicher Stellen in Zukunft ausgeschlossen erscheint.

Schuldner wird zum Pflegefall

Nach den gegebenen Umständen kam in Betracht, dass die Schuldnerin sich zukünftig in einem Zustand befinden wird, der eine Selbsttötung ausschließt, weil sie so pflegebedürftig wird, dass sie nicht mehr selbstbestimmt leben kann.

 

Hinweis

Der Gläubiger sollte vor diesem Hintergrund auch die Betreuungsbehörden einschalten. In Fällen, in denen – wie im Fall des BGH – eine Betreuung bereits bestand, ist auf die Unterbringung in einem Pflegeheim hinzuwirken. Jedenfalls ist diese Option in die Begutachtung mit einzubringen.

Zwischen Einstellung und Zeitraum unterscheiden

Sollte man zu dem Ergebnis gelangen, dass eine akute, anders nicht abwendbare Suizidgefahr bei der Schuldnerin besteht, ist die Zwangsvollstreckung einzustellen. Bei der Beurteilung der Frage, für welchen Zeitraum dies zu geschehen hat, sind alle Aspekte zu berücksichtigen. Der BGH zählt die für seinen Fall wichtigen Gesichtspunkte auf:

Die Gläubigerin hatte das Hausgrundstück weit unter Verkehrswert ersteigert.
Die zum Zeitpunkt der Zwangsversteigerung 93-jährige Schuldnerin wohnt seit mehr als 50 Jahren in dem Haus.
Zu klären ist, ob die Gläubigerin um das Alter der Schuldnerin und deren bisherige Wohnzeit wusste, so dass sie das Räumungsrisiko abschätzen konnte.
Zugunsten der Gläubigerin ist zu berücksichtigen, wenn sie durch die Dauer des Räumungsverfahrens und die unter dem Verkehrswert liegende Nutzungsentschädigung in finanzielle Schwierigkeiten geraten ist, es sei denn, sie ist schon mit dem Erwerb ein solch hohes Risiko eingegangen.

Für den Gläubiger gilt es darauf zu achten, dass der Einstellungszeitraum sechs Monate, längstens zwölf Monate, nicht über...

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