Entscheidungsstichwort (Thema)

Akteneinsicht in Kanzleiräumen des Prozessbevollmächtigten im finanzgerichtlichen Verfahren während der Corona-Pandemie

 

Leitsatz (amtlich)

1. § 78 Abs. 3 Satz 1 FGO schließt zwar nicht jedwede Akteneinsicht außerhalb von Diensträumen aus, allerdings verbleibt die Übersendung von Akten in die Geschäftsräume eines Prozessbevollmächtigten zum Zwecke der dortigen Einsichtnahme auf eng begrenzten Ausnahmefälle beschränkt.

2. Bei der vom Gericht am Einzelfall zu beurteilende Ermessensentscheidung, begründet die Corona-Pandemie und die mit ihr im Entscheidungszeitpunkt einhergehenden Gefahren und Beschränkungen grundsätzlich, ohne Hinzutreten weiterer Umstände, keinen zwingenden Ausnahmefall, der eine Akteneinsicht in den Kanzleiräumen des Prozessbevollmächtigten gebietet.

 

Normenkette

FGO § 78

 

Nachgehend

BFH (Beschluss vom 22.10.2021; Aktenzeichen IX B 38/21)

 

Gründe

I.

Das Klageverfahren hat den Einkommensteuerbescheid der Kläger für das Jahr 2016 zum Gegenstand.

Der Prozessbevollmächtigte der Kläger beantragte im Rahmen seiner Klagebegründung vom 5. August 2020 Akteneinsicht und bat um eine zweitägige Überlassung der Akten zur Durchsicht in seinen Kanzleiräumlichkeiten. Da er selbst zu den vom Robert-Koch-Institut benannten Risikogruppen gehöre, sei ihm eine Akteneinsicht in den Diensträumen des Finanzgerichts Hamburg nicht möglich. Mit Verfügung vom 21. September 2020 wurde dem Prozessbevollmächtigten der Kläger die begehrte Akteneinsicht gewährt, jedoch unter der Maßgabe, dass diese in "Diensträumen" im Sinne des § 78 Abs. 3 Satz 1 Finanzgerichtsordnung (FGO), etwa der Geschäftsstelle des Finanzgerichts Hamburg, zu erfolgen habe.

Der Prozessbevollmächtigte der Kläger erschien sodann am 25. November 2020, nach vorheriger Terminabsprache, zur Akteneinsicht im Finanzgericht Hamburg. Nachdem er es, trotz mehrfacher Ermahnung durch Mitarbeiter der Geschäftsstelle, nicht unterließ, einzelne Blätter aus der Akte auszuheften, offenbar um diese mit dem Handy vollständig fotografieren zu können, wurde die Akteneinsicht abgebrochen und der Prozessbevollmächtigte aus den Räumlichkeiten des Finanzgerichts Hamburg verwiesen.

In der Folge erneuerte der Prozessbevollmächtigte des Klägers mehrfach seinen Akteneinsichtsantrag, wobei diesen Anträgen jeweils unter der Maßgabe stattgegeben wurde, dass die Akteneinsicht in "Diensträumen" zu erfolgen habe. Mit Schriftsatz vom 17. Dezember 2020 verlangten die Kläger sodann die Bereitstellung des Inhalts der Akten zum Abruf. Mit Schriftsatz vom 22. März 2021 beantragten die Kläger für den Fall der erneuten Ablehnung der Übersendung der Originalfinanzamtsakten bzw. einer vollständigen Kopie an die Kanzleiadresse ihres Prozessbevollmächtigten, über die Akteneinsicht im Beschlusswege zu entscheiden.

Im Übrigen wird wegen der weiteren Einzelheiten vollumfänglich auf die Schriftsätze des Prozessbevollmächtigten der Kläger verwiesen.

II.

Dem Akteneinsichtsgesuch kann nur im tenorierten Umfang entsprochen werden. Soweit der Antrag auf Übersendung der vollständigen Akten im Original oder in Kopie in die Kanzleiräume des Prozessbevollmächtigten der Kläger gerichtet ist bzw. auf die Bereitstellung des Inhalts sämtlicher Akten auf Abruf, wird der Antrag als unbegründet abgelehnt.

1.

Der Senat ist für die Entscheidung über Akteneinsicht funktional zuständig.

Wenn auch die funktionale Zuständigkeit für die Entscheidung über Akteneinsicht nach § 78 Abs. 1 FGO und damit auch für die damit eng zusammenhängende Erteilung von Ausfertigungen etc. nach § 78 Abs. 1 Satz 2 FGO (außerhalb der elektronischen Zugriffsrechte nach§ 78 Abs. 2 Satz 2, Satz 3 FGO ) nicht abschließend geklärt sein dürfte (vgl. die Ausführungen von Stalbold in Gosch, AO/FGO, Stand: 1. März 2018, § 78 Rz. 56 m.w.N.), steht zumindest fest, dass jedenfalls auch der Senat zuständig für die Ablehnung derartiger Anträge ist (vgl. BFH-Beschlüsse vom 3. Dezember 1974, VII B 88/74, BFHE 114, 173, BStBl II 1975, 235; vom 20. Oktober 2005, VII B 207/05, BFHE 211, 15, BStBl II 2006, 41; vom 5. Mai 2017, X B 36/17, BFH/NV 2017, 1183).

2.

Nach § 78 Abs. 1 Sätze 1 und 2 FGO in der ab dem 1. Januar 2018 geltenden Fassung (Art. 22 Nr. 8, Art. 33 Abs. 1 des Gesetzes zur Einführung der elektronischen Akte in der Justiz und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs vom 5. Juli 2017, BGBl I 2017, 2208) können die Beteiligten die Gerichtsakten und die dem Gericht vorgelegten Akten einsehen und sich durch die Geschäftsstelle auf ihre Kosten Ausfertigungen, Auszüge, Ausdrucke und Abschriften erteilen lassen. Gemäß § 78 Abs. 3 FGO wird, wenn die Prozessakten - wie vorliegend - in Papierform geführt werden, die Akteneinsicht durch Einsichtnahme in die Akten in Diensträumen gewährt (Satz 1). Die Akteneinsicht kann, soweit nicht wichtige Gründe entgegenstehen, auch durch Bereitstellung des Inhalts der Akten zum Abruf gewährt werden (Satz 2).

a.

Diensträume in diesem Sinne sind nicht nur die Diensträume des Gerichts, sondern Räumlic...

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