Ab 2004 und damit in einem nicht zufälligen zeitlichen Zusammenhang mit dem Amtsantritt der vormaligen Bundesverfassungsrichterin Renate Jaeger als (deutsche) Richterin am EGMR[19] hat es in zunehmendem Maße Verurteilungen von Deutschland wegen überlanger Verfahrensdauer gegeben, einmündend zunächst in die Entscheidung "Sürmeli", bei der neben einer Verletzung des Anspruchs auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK) auch die Verletzung des Rechts auf eine wirksame Beschwerde (Art. 13 EMRK) gerügt wurde, und zwar deshalb, weil in Deutschland immer noch kein wirksamer Rechtsbehelf gegen überlange (Gerichts-) Verfahren eingeführt worden war.[20]

Erst aufgrund einer Vielzahl weiterer Verurteilungen wegen überlanger Verfahrensdauer sowie schließlich als Reaktion auf das Pilot-Urteil "Rumpf"[21] vom 2.9.2010 hat der bundesdeutsche Gesetzgeber mit dem am 3.12.2011 in Kraft getretenen Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren[22] schließlich einen grundsätzlich den Anforderungen des EGMR entsprechenden Rechtsschutz geschaffen, was ihm der Gerichtshof zunächst auch ausdrücklich bestätigte.[23]

Gerade wegen der besonderen Bedeutung der zeitnahen Erledigung von Gerichtsverfahren in Kindschaftssachen[24] ist es auch in diesem Rechtsbereich wiederholt zur Verurteilung Deutschlands durch den EGMR wegen der überlangen Verfahrensdauer gekommen, außerdem in zwei Fällen wegen der überlangen Dauer von gerichtlichen Unterhalts- und Scheidungsverfahren.[25]

Aber nicht nur das: Das/die Verfahren "Kuppinger" hat/haben schließlich speziell in Kindschaftssachen zu einer weiteren gesetzlichen Verbesserung des Rechtsschutzes gegen überlange Verfahrensdauer in Deutschland geführt. Ausgangspunkt war das Urteil des EGMR vom 21.4.2011,[26] mit dem die Dauer eines amtsgerichtlichen Umgangsrechtsverfahrens von 4 Jahren und 10 Monaten vom Gerichtshof als nicht mehr angemessen und deshalb erneut als Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und des Art. 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde) eingestuft wurde. In seinem Urteil vom 15.1.2015 war der Gerichtshof erneut mit derselben umgangsrechtlichen Auseinandersetzung befasst,[27] qualifizierte nunmehr die mangelnde Umsetzung der gerichtlichen Umgangsregelung durch die Gerichte als Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK und nahm, obwohl es sich um einen "Altfall" vor Inkrafttreten des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24.11.2011[28] handelte, diesen Fall zum Anlass, unter Bezugnahme auf seine Entscheidungen "Macready/Tschechische Republik“[29] und "Bergmann/Tschechische Republik“[30] speziell in Kindschaftssachen noch eine Verbesserung des präventiven, nicht nur kompensatorisch wirkenden Rechtsschutzes gegen überlange Verfahrensdauer anzumahnen; deshalb stellte der Gerichtshof auch erneut eine Verletzung des Rechts auf wirksame Beschwerde (Art. 13 EMRK) fest.""

Der bundesdeutsche Gesetzgeber hat darauf mit einer bereichsspezifischen Neuregelung (§§ 155b und 155c FamFG),[31] nämlich mit der Einführung einer "Beschleunigungsrüge" bzw. "Beschleunigungsbeschwerde" in Kindschaftssachen, die den Aufenthalt des Kindes, das Umgangsrecht oder die Herausgabe des Kindes betreffen, sowie in Verfahren wegen Gefährdung des Kindeswohls, reagiert.

Gewissermaßen zur Abrundung ist schließlich noch darauf hinzuweisen, dass ausweislich der BMJV-Berichte ab 2015 noch mehrere Individualbeschwerden, die ebenfalls den Vorwurf überlanger Dauer von Umgangs- oder Sorgerechtsverfahren zum Gegenstand hatten, durch Vergleich bzw. Anerkennung der entsprechenden Konventionsverletzung und Zubilligung eines Entschädigungsanspruchs seitens der Bundesregierung zur Erledigung gebracht und aus dem Register gestrichen worden sind.

[19] Siehe dazu Kirchberg, Renate Jaeger und die deutsche Abteilung des EGMR 2004–2010, in: FS Jaeger, 2010, S. 37 ff.
[20] EGMR, Urt. v. 8.6.2006, EuGRZ 2007, 255.
[21] In diesem ersten Piloturteil gegen Deutschland vom 2.9.2010 (EuGRZ 2010, 700) stellte der EGMR in Ansehung der überlangen Dauer des Ausgangsrechtsstreits vor den (deutschen) Verwaltungsgerichten eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK sowie außerdem des Rechts auf eine wirksame Beschwerde i.S.v. Art. 13 EMRK fest. Bei dem Urteil in einem Pilotverfahren wird nach Art. 61 der Verfahrensordnung des EGMR im Tenor festgehalten, dass die jeweils vom Gerichtshof identifizierte Konventionsverletzung auf einem strukturellen Problem beruht. Außerdem verpflichtet der Gerichtshof den Mitgliedstaat, durch geeignete gesetzliche Maßnahmen die Durchsetzung der Konventionsrechte sicherzustellen und die Defizite zu beseitigen.
[22] BGBl I, 2302. Im Vordergrund der gesetzlichen Regelung standen die Einfügung der grundsätzlich für alle Fachgerichtsbarkeiten geltenden §§ 198–201 in das GVG (Art. 1) und die Einfügung der §§ 97 a–e in das BVerfGG (Art. 2). Damit ist die Möglichkeit eröffnet, die nachteiligen Fo...

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