Für gerichtliche Entscheidungen auf der Grundlage der §§ 1666, 1666a BGB bildet – das Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung vorausgesetzt – die Prüfung der Verhältnismäßigkeit der anzuordnenden Maßnahme den Dreh- und Angelpunkt. Dies gilt in besonderem Maße für Entscheidungen, die auf eine Trennung des Kindes von der elterlichen Familie abzielen, da in diesen Fällen ein besonders intensiver Eingriff in das Elterngrundrecht gemäß Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG in Rede steht. Wenn auch die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für derartige Eingriffe geklärt sein mögen, bietet deren Handhabung im Einzelfall immer wieder Anlass zur Klarstellung bzw. Konkretisierung, wie neben der vorliegenden Entscheidung auch die beiden zeitnah ergangenen Entscheidungen BVerfG 24.3.2014 – 1 BvR 160/14 und BVerfG 7.4.2014 – 1 BvR 3121/13[1] belegen.

Während in der gerichtlichen Praxis nach dem Eindruck der Verfasserin unter dem Stichwort "milderes Mittel" vorrangig um die Erforderlichkeit der (teilweisen) Entziehung der elterlichen Sorge gerungen wird, lenkt die vorliegende Entscheidung den Blick auf die sog. erste Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung, die Geeignetheit der Maßnahme, und macht deutlich, dass in bestimmten Fällen ein Eingriff in das Elternrecht bereits deshalb ausscheiden muss, weil er zur Beseitigung der bestehenden Gefahr für das Kindeswohl nicht geeignet ist. Dass eine (teilweise) Entziehung der elterlichen Sorge, die auf eine – generell zur Abwendung der Gefahr geeignet erscheinende – Fremdunterbringung des Kindes abzielt, ausscheiden muss, wenn der Vormund bzw. Ergänzungspfleger mangels verfügbarer Einrichtung objektiv auf absehbare Zeit nicht in der Lage sein wird, die Fremdunterbringung einzuleiten, kann im Ergebnis keinen Bedenken begegnen. Derartige "Vorratsbeschlüsse" sind unzulässig, auch wenn bei dem entscheidenden Gericht regelmäßig ein Gefühl der Hilflosigkeit verbleiben wird, da das betroffene Kind sehenden Auges in einer Gefahrensituation belassen werden muss. Ähnlich klar liegt der Fall, wenn die negativen Folgen einer Trennung des Kindes von den Eltern nicht durch die Beseitigung der festgestellten Gefahr aufgewogen werden, so dass sich die Situation des Kindes in der Gesamtbetrachtung nicht verbessern würde,[2] oder wenn ein Jugendlicher sich Maßnahmen der Erziehungshilfe ernsthaft und endgültig verweigert und deshalb nicht mit einem Erfolg der in Aussicht genommenen Maßnahme gerechnet werden kann.

Eine besondere Problematik besteht, wenn das Familiengericht eine geeignete Fremdunterbringungsmöglichkeit (hier: Unterbringung des Kindes in einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung) sieht und im Hinblick darauf die (teilweise) Entziehung der elterlichen Sorge anordnet, das als Vormund oder Ergänzungspfleger eingesetzte Jugendamt aber zu erkennen gegeben hat, dass es nicht beabsichtigt, diese Maßnahme einzuleiten. Da aus den in der Entscheidung genannten Gründen die Durchsetzung einer Fremdunterbringung gegen den Standpunkt des Jugendamtes höchst unsicher erscheint, hat das BVerfG folgerichtig auch aus diesem Grund die Entziehung der elterlichen Sorge als ungeeignete Maßnahme zur Abwendung der Kindeswohlgefährdung angesehen. Wenn sich abzeichnet, dass das Jugendamt gegen eine vom Familiengericht in Aussicht genommene Maßnahme eingestellt ist, sollte das Familiengericht deshalb besonders sorgfältig prüfen, ob gerade das Jugendamt als Vormund oder Pfleger ausgewählt werden sollte. Wird eine andere Person als Vormund/Ergänzungspfleger eingesetzt, kann notfalls wenigstens der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten beschritten werden. Allerdings bleibt abzuwarten, ob das BVerfG im Falle einer zu erwartenden Ausschöpfung des Verwaltungsrechtsweges nicht ebenfalls von einem unzulässigen Vorratsbeschluss ausgehen würde. Die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen überhaupt ein Sorgerechtsentzug "auf Vorrat" der verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeit genügen kann, hat das BVerfG in seiner Entscheidung nämlich ausdrücklich offen gelassen.

Dr. Gabriele Morawitz, Vors. Richterin am Oberlandesgericht Köln

FF 7/2014, S. 308 - 314

[1] FF 2014, 295 und 302 (in diesem Heft) = BeckRS 2014, 49403 und 09631.
[2] Vgl. hierzu BVerfG v. 24.3.2014 – 1 BvR 160/14 (a.a.O.).

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