GG Art. 6 Abs. 2 S. 1; BGB § 1666 ff., § 1684 Abs. 3, § 1696; FamFG §§ 88 ff.

Leitsatz

1. Für den Entzug des Sorgerechts reicht auch im Falle des Umgangsboykotts durch die sorgeberechtigte Mutter nicht eine irgendwie geartete Kindeswohlgefährdung aus; vielmehr muss eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit zu erwarten sein. Dafür ist darzulegen, worin genau die schwerwiegende Entwicklungsgefahr für die Kinder besteht.

2. Das Sorgerecht darf nur unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit entzogen werden. Dabei sind die negativen Folgen des Sorgerechtsentzugs mit zeitweiliger Heimunterbringung für das Wohl der betroffenen Kinder ins Verhältnis zu den Folgen eines weiteren Verbleibs der Kinder bei der Mutter zu setzen.

3. Es ist stets zu prüfen, ob mildere Mittel zur Verfügung stehen. Als milderes Mittel sind Maßnahmen in den Blick zu nehmen, die zur Wiederaufnahme des Umgangs des Vaters mit den Kindern beitragen. Kommt eine Wiederaufnahme des Umgangs in Betracht, ist in einem zweiten Schritt zu untersuchen, ob wirksame Maßnahmen zur in der Vergangenheit problematischen Realisierung des Umgangs (Zwangsmittel, Einrichtung einer Umgangspflegschaft, Therapieauflage) zur Verfügung stehen.

(Leitsätze der Redaktion)

BVerfG, Beschl. v. 28.2.2012 – 1 BvR 3116/11 (OLG Koblenz, AG Bad Neuenahr-Ahrweiler)

1 Aus den Gründen:

I. Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen den Entzug der elterlichen Sorge für ihre beiden Kinder im Wege der einstweiligen Anordnung.

1. Aus der Ehe der Kindeseltern sind die im Jahr 2002 geborene Tochter H.T. und die im Jahr 2004 geborene Tochter S. hervorgegangen. Die Eltern trennten sich im Juli 2006 voneinander. Die Kinder lebten seitdem bei der Mutter. Im Mai 2007 kam es zwischen den Eltern in einem Krankenhaus zu einer Auseinandersetzung. Die Mutter wirft dem Vater vor, sie dabei vor den Kindern körperlich misshandelt zu haben. Durch einstweilige Anordnung des AG Bad Neuenahr-Ahrweiler vom 19.7.2007 wurde im Einverständnis mit dem Vater das Aufenthaltsbestimmungsrecht auf die Beschwerdeführerin übertragen. Durch Beschluss des AG Bad Neuenahr-Ahrweiler vom 14.5.2009 wurde der Umgang der Töchter mit ihrem Vater geregelt. Die Beschwerde der Mutter gegen diese Entscheidung wurde durch Beschluss des OLG Koblenz vom 30.9.2009 zurückgewiesen. In der Folgezeit fand jedoch nur ein Besuchswochenende im Dezember 2009 mit Übernachtung beim Vater statt. Weitere für Januar und Februar 2010 vorgesehene Termine scheiterten an der Krankheit der Kinder. Im Februar 2010 begehrte der Vater eine Modifikation und teilweise Erweiterung des Umgangs mit den Kindern. Die Mutter setzte sich hiergegen zur Wehr und beantragte die vorläufige Aussetzung des Umgangs. Im Rahmen ihrer Anhörung bei Gericht im Oktober 2010 gaben beide Kinder an, dass sie Besuche des Vaters ablehnten. Durch Beschl. v. 3.11.2010 ordnete das Amtsgericht in jenem Verfahren die Einholung eines Sachverständigengutachtens zu der Frage an, in welcher Ausgestaltung der Umgang der Kinder mit dem Vater dem Kindeswohl am meisten diene. In diesem Gutachten empfahl die Sachverständige, die Kinder nicht in der Obhut der Mutter zu belassen.

a) Mit angegriffenem Beschluss des AG Bad Neuenahr-Ahrweiler vom 10.10.2011 wurde der Beschwerdeführerin daraufhin im Wege der einstweiligen Anordnung ohne vorherige Anhörung die elterliche Sorge für die beiden Töchter entzogen und das Aufenthaltsbestimmungsrecht auf den Vater übertragen. Ferner wurde die Herausgabe der Kinder an das Jugendamt angeordnet. Das Jugendamt wurde mit Zustimmung des Vaters ermächtigt, die Kinder vorübergehend in einer geeigneten Einrichtung oder Pflegefamilie unterzubringen. Es bestehe die begründete Besorgnis, dass bei Nichteingreifen das Kindeswohl beeinträchtigt werde. Demgemäß seien nach §§ 1666, 1632 BGB die getroffenen Maßnahmen zur Abwehr der Kindeswohlgefährdung geboten. Die Sachverständige komme in ihrem nachvollziehbaren und überzeugenden Gutachten zu der Feststellung, dass die Mutter einer Wiederaufnahme und Fortsetzung der Umgangskontakte extrem ablehnend gegenüberstehe und ihre übersteigerten Ängste gegenüber dem Ehemann auf die Kinder übertrage. Die Kinder äußerten Angst und Ablehnung gegenüber dem Vater und beriefen sich dabei auf Ereignisse, die mit ihrem eigenen Erleben nicht in Einklang stünden. Die früheren positiven Äußerungen oder Signale der Kinder hinsichtlich der Umgangskontakte würden nach Abbruch der Kontakte zunehmend durch von der Mutter beeinflusste Negativäußerungen überlagert. Bei Aussetzung der Umgangskontakte sehe die Sachverständige Risiken in Form der Beeinträchtigung der Bindungsbereitschaft, der Verfestigung des negativen Vaterbildes mit der Gefahr einer Selbstwertproblematik, der nicht gelingenden Persönlichkeits- und Autonomieentwicklung, des Stehenbleibens auf einer kindlichen Abhängigkeitsbeziehung von der Mutter sowie einer zukünftigen Belastung der Beziehung zur Mutter. Ebenso wie die Sachverständige sehe das Gericht keine Aussicht auf eine Verhaltensänderun...

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