Eine Bewertung der Entscheidung fällt nicht ganz leicht. Zwei Gesichtspunkte kommen insoweit in den Sinn; einmal von der Warte des Elternunterhalts aus und zum anderen im Hinblick auf den Aspekt der familiären Solidarität:

a) Für den Elternunterhalt ist zunächst hervorzuheben, dass dieser im Vergleich zu anderen Unterhaltsansprüchen bekanntlich verhältnismäßig schwach ausgestaltet ist:[18] Nach dem Gesetz geht der Elternunterhalt fast allen anderen Unterhaltsansprüchen im Rang nach (§ 1609 Nr. 6 BGB) und auch vom Umfang her gilt nur eine beschränkte Unterhaltspflicht, bei der dem Pflichtigen beispielsweise hohe Freibeträge zu belassen sind oder er die Aufwendungen für die eigene Altersvorsorge leistungsfähigkeitsmindernd absetzen kann.[19] Dieser Befund erscheint grundsätzlich geeignet, es zu rechtfertigen, auch in Bezug auf die Verwirkung beim Elternunterhalt mildere Maßstäbe anzulegen. Mit einer derartigen, das konkrete Unterhaltsverhältnis in den Blick nehmenden Auslegung des § 1611 BGB würde der Elternunterhalt keineswegs einen Sonderweg beschreiten. Denn auch für andere Unterhaltsverhältnisse, namentlich für den Unterhaltsanspruch nicht miteinander verheirateter Eltern aus Anlass der Geburt eines gemeinsamen Kindes, für den über die Verweisung in § 1615l Abs. 3 Satz 1 BGB ebenfalls § 1611 BGB zur Anwendung gelangt, ist anerkannt, dass die jeweiligen Besonderheiten der Unterhaltsbeziehung – bei § 1615l BGB also insbesondere die Belange des zu betreuenden Kindes – über den reinen Wortlaut hinaus bei der Auslegung der Bestimmung besonders zu berücksichtigen sind.[20]

b) Anders fällt dagegen die Bewertung der Entscheidung im Hinblick auf das Prinzip der familiären Solidarität aus:

(aa) Festzuhalten ist, dass die familiäre Solidarität kein leeres Wort, sondern unverändert gelebte Realität ist.[21] Zwar haben sich die Möglichkeiten und Formen, wie die verschiedenen Generationen einer Familie untereinander den Kontakt pflegen und sich gegenseitig unterstützen, aufgrund geänderter Wohn- und Familienverhältnisse und einer gestiegenen gesellschaftlichen Mobilität zuletzt gewandelt und sind vielfältiger geworden. Aber die meisten Menschen stehen in engem Kontakt zu den verschiedenen Generationen der eigenen Familie und fühlen sich emotional nicht nur eng verbunden, sondern finden dort auch verlässliche Unterstützung. Bislang werden denn auch die Pflege und die alltägliche Unterstützung älterer Familienmitglieder zum Großteil durch Verwandte, insbesondere durch die Töchter und Schwiegertöchter geleistet.[22] Vor diesem Hintergrund stellt die Entscheidung des Bundesgerichtshofs ein starkes Signal dar, durch die das familiäre Gemeinschaftsbewusstsein gefestigt und klar gemacht wird, dass es sich hierbei nicht nur um ein Lippenbekenntnis in guten Tagen handelt, sondern dass das gegenseitige Einstehen innerhalb der Familie grundsätzlich Vorrang vor staatlichen Sozialleistungen hat.

(bb) Bei der Frage nach der konkreten Ausgestaltung der familiären Solidarität kommen die Vorinstanz, das OLG Oldenburg, und der Bundesgerichtshof indessen zu durchaus unterschiedlichen Wertungen:

Maßgeblicher Gesichtspunkt aus Sicht des OLG Oldenburg ist, dass sich der Unterhaltsanspruch aus § 1601 BGB nicht unmittelbar aus dem rechtlichen Status der Verwandtschaft legitimiert, sondern seine Wurzeln in der familiären Solidarität und Verantwortung hat. Nach der gesetzlichen Konzeption soll diese in einem Mehrgenerationenverhältnis lebenslang Geltung behalten, wobei es Kindern und Eltern verwehrt ist, sich unabhängig von der Qualität ihrer Beziehung der gesetzlich begründeten Verantwortung zu entziehen. Andererseits ist niemand gehalten, den Grundsatz der Solidarität auch tatsächlich zu leben, wenn es an der dafür erforderlichen familiären Bindung fehlt. Vielmehr bleibt die Freiheit, das Leben in eigener persönlicher und wirtschaftlicher Verantwortung und auch in anderen sozialen Bindungen zu gestalten.[23] Von diesem Ausgangspunkt aus ist es nur konsequent, wenn das OLG Oldenburg weiter feststellt, dass jemand, der sich bewusst und dauerhaft aus jeglicher persönlicher und wirtschaftlicher Beziehung zu seinen nächsten Verwandten löst, sich selbst dem familiären Solidarsystem entzieht und von daher auch keine solidarische Unterstützung mehr erwarten kann, weil dies in einem eklatanten Widerspruch zu dem eigenen Verhalten stünde. Ein auf diese Weise agierender Elternteil wird vom unterhaltspflichtigen Kind "wie ein Fremder" empfunden und lässt die Auferlegung einer weiteren finanziellen Unterstützung schlechterdings als unbillig erscheinen.[24]

Anders dagegen der Bundesgerichtshof, der das Maß an familiärer Solidarität herunterstuft und judiziert, dass beim Elternunterhalt eine Verwirkung – insoweit dürfte zu ergänzen sein: "nur" – gerechtfertigt sein kann, wenn der Elternteil sein Kind, das er später auf Elternunterhalt in Anspruch nimmt, schon im Kleinkindalter bei den Großeltern zurückgelassen und sich in der Folgezeit nicht mehr in nennenswertem...

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