Urteil

[1] Das Vorabentscheidungsverfahren betrifft die Auslegung der Art. 1 und 10 der Verordnung (EU) Nr. 1259/2010 des Rates vom 20.12.2010 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich des auf die Ehescheidung und Trennung ohne Auflösung des Ehebandes anzuwendenden Rechts (ABl 2010, L 343, S. 10).

[2] Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Soha Sahyouni und Herrn Raja Mamisch über die Anerkennung einer von einer religiösen Instanz in einem Drittstaat ausgesprochenen Ehescheidung.

Rechtlicher Rahmen

( … )

Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefragen

[17] Herr Mamisch und Frau Sahyouni schlossen am 27.5.1999 im Bezirk des islamrechtlichen Gerichts in Homs (Syrien) die Ehe. Herr Mamisch ist seit Geburt syrischer Staatsangehöriger. 1977 wurde er in Deutschland eingebürgert. Seitdem besitzt er beide Staatsangehörigkeiten. Frau Sahyouni ist seit Geburt syrische Staatsangehörige. Nach der Eheschließung erwarb sie die deutsche Staatsangehörigkeit.

[18] Die Eheleute lebten bis 2003 in Deutschland und verzogen anschließend nach Homs. Wegen des syrischen Bürgerkriegs begaben sie sich im Sommer 2011 erneut kurzzeitig nach Deutschland. Ab Februar 2012 lebten sie abwechselnd in Kuwait und im Libanon. Während dieses Zeitraums hielten sie sich wiederholt auch in Syrien auf. Aktuell leben beide Parteien des Ausgangsverfahrens mit unterschiedlichen Wohnsitzen wieder in Deutschland.

[19] Am 19.5.2013 erklärte Herr Mamisch die Scheidung von seiner Ehefrau, indem sein Bevollmächtigter vor dem geistlichen Scharia-Gericht in Latakia (Syrien) die Scheidungsformel aussprach. Das Gericht stellte am 20.5.2013 die Scheidung der Ehegatten fest. Am 12.9.2013 unterzeichnete Frau Sahyouni eine Erklärung über ihr nach religiösen Vorschriften zustehenden Leistungen von Herrn Mamisch in Höhe von insgesamt 20.000 US-Dollar (USD) (etwa 16.945 EUR), die wie folgt lautete:

" … Ich habe alle mir aus dem Ehevertrag und aufgrund der auf einseitigen Wunsch vorgenommenen Scheidung zustehenden Leistungen erhalten und somit befreie ich ihn von allen mir aus dem Ehevertrag und dem von dem Scharia-Gericht Latakia erlassenen Scheidungsbeschluss vom 20.5.2013 zustehenden Verpflichtungen …" “

[20] Herr Mamisch beantragte am 30.10.2013 die Anerkennung der in Syrien ausgesprochenen Ehescheidung. Der Präsident des Oberlandesgerichts München gab diesem Antrag mit Entscheidung vom 5.11.2013 statt und stellte fest, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für die Anerkennung der Ehescheidung vorlägen.

[21] Am 18.2.2014 beantragte Frau Sahyouni, diese Entscheidung aufzuheben und auszusprechen, dass die Voraussetzungen für die Anerkennung der Ehescheidung nicht erfüllt seien.

[22] Mit Entscheidung vom 8.4.2014 half der Präsident des Oberlandesgerichts München der Beschwerde nicht ab. Die Anerkennung der Ehescheidung richte sich nach der Verordnung Nr. 1259/2010, die auch auf solche Ehescheidungen anwendbar sei, die nicht unter konstitutiver Mitwirkung eines Gerichts oder einer Behörde ausgesprochen würden (im Folgenden: Privatscheidungen). Mangels wirksamer Rechtswahl und mangels gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts der Ehegatten im Jahr vor der Scheidung sei das anzuwendende Recht nach Art. 8 Buchst. c dieser Verordnung zu bestimmen. Wenn beide Ehegatten die doppelte Staatsangehörigkeit besäßen, komme es auf die effektive Staatsangehörigkeit im Sinne des nationalen Rechts an. Diese sei zum Zeitpunkt der betreffenden Scheidung die syrische gewesen. Der Ordre public im Sinne von Art. 12 der Verordnung Nr. 1259/2010 stehe der Anerkennung der Scheidung nicht entgegen.

[23] Mit Beschl. v. 2.6.2015 setzte das mit der Rechtssache befasste Oberlandesgericht München das Verfahren aus und legte dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung der Verordnung Nr. 1259/2010 zur Vorabentscheidung vor. Mit Beschl. v. 12.5.2016, Sahyouni (C-281/15, EU:C:2016:343), hat sich der Gerichtshof für die Beantwortung dieser Fragen für offensichtlich unzuständig erklärt und dies u.a. damit begründet, dass die Verordnung Nr. 1259/2010 für die Anerkennung einer in einem Drittstaat ergangenen Ehescheidung nicht gelte und dass das vorlegende Gericht keinen Anhaltspunkt dafür geliefert habe, dass die Bestimmungen dieser Verordnung nach dem nationalen Recht unmittelbar und unbedingt auf Sachverhalte wie den im Ausgangsverfahren streitigen anwendbar seien. Er hat jedoch darauf hingewiesen, dass es dem vorlegenden Gericht unbenommen bleibe, ein neues Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen, wenn es dem Gerichtshof Anhaltspunkte zu liefern vermöge, die ihm eine Entscheidung ermöglichten.

[24] Das vorlegende Gericht führt zur Begründung des Vorabentscheidungsersuchens aus, dass in einem Drittstaat ergangene Ehescheidungen in Deutschland im Verfahren nach § 107 FamFG anerkannt würden. Bei Privatscheidungen prüfe das inländische Gericht die materiellen Anerkennungsvoraussetzungen nach verbreiteter Ansicht grundsätzlich anhand der Verordnung Nr. 1259/2010, und zwar deshalb, weil infolge...

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