Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, seien Sie alle herzlich willkommen!

Nach einer Fülle von Reformen, die zu einer erheblichen Unruhe in der Praxis geführt haben, war es zunächst einmal erforderlich, sich einer vernünftigen – Maß haltenden – praktischen Umsetzung zuzuwenden. Wie gehen wir mit den Reformen um, wie lösen wir die sich daraus ergebenden Streitfragen? Das steht immer noch auf der Agenda.

Das heutige Jubiläum – der 20. Familiengerichtstag – gibt aber auch Gelegenheit für eine Rückbesinnung auf die Grundprinzipien des Rechts, Gelegenheit innezuhalten und zu überlegen: An welchem Punkt sind wir im Familienrecht angekommen? Was ist der Kern, das Fundament unseres Familienrechts, was ist unser Ziel? Was soll Familienrecht überhaupt leisten? Oder anders gefragt: Leistet es das, was es soll? Stimuliert es, was es stimulieren soll?

Hat die Unterhaltsrechtsreform tatsächlich zu mehr Eigenverantwortung geführt? Ist das Unterhaltsrecht, insbesondere der Betreuungsunterhalt, aber auch die Vorschrift zur Befristung und Begrenzung des Unterhalts, nach der Reform hinreichend darauf überprüft worden, ob und inwieweit die Reformziele auch in der Lebenswirklichkeit umgesetzt und verwirklicht wurden? Dazu gehört nicht nur, die Praxistauglichkeit der Normen, sondern gerade auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen auf den Prüfstand zu stellen. Meine Bedenken, die ich bei der letzten Eröffnung geäußert habe, mögen sich relativiert haben, sind aber keineswegs völlig ausgeräumt.

Familienrecht ist ein höchst sensibles Rechtsgebiet und braucht ein stimmiges und konsensorientiertes Gesamtkonzept. Es darf sich nicht in partikuläre, kleinteilige und untereinander nicht abgestimmte Regelungen aufsplittern. Das gilt besonders an den Schnittstellen von Unterhalts-, Steuer-, Sozial- und Arbeitsrecht, aber auch im Bereich des Abstammungs- und Kindschaftsrechts.

Ist es etwa stimmig, dass das deutsche Recht dem leiblichen Vater zwar nunmehr ein Umgangsrecht eröffnet, um ihm den Aufbau einer sozialen Beziehung zu seinem Kind zu ermöglichen, ihm zugleich aber ein Recht zur Vaterschaftsanfechtung, das ihm das Einrücken in die umfassende rechtliche Vaterstellung ermöglichen würde, versagt, wenn zwischen rechtlichem Vater und Kind bereits eine sozial-familiäre Beziehung besteht? Auch wenn diese Regelung, gemessen an der Verfassung und der Menschenrechtskonvention, zulässig sein mag – ist sie auch gut? Wie weit soll der verfassungsrechtlich garantierte Schutz der sozial-familiären Beziehung, also des Zusammenlebens im Familienverband, gehen? Muss das Verhältnis von biologischer und sozialer Vaterschaft nicht neu bestimmt werden? Ist es zudem zu billigen, wenn dem leiblichen Vater eine Anfechtung tatsächlich möglich wäre, er sich aber lieber auf den Umgang beschränkt? Nur Recht, keine Pflicht?

Bislang lässt sich schwer beurteilen, welche "Sprengkraft" in dem Gesetz zur Stärkung der Rechte des leiblichen, nicht rechtlichen Vaters wirklich steckt. Das Wohl des Kindes sorgsam zu achten, ist umso mehr unsere Aufgabe bei der Anwendung dieser neuen Vorschrift. Zugleich zeigt gerade dieses neue Gesetz, dass es immer schwieriger wird, das überkommene traditionelle Familienbild mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu vereinbaren. Bezieht man zudem die modernen Methoden der Fortpflanzungsmedizin in die Überlegung ein, so gilt dies erst recht. Die daraus resultierenden vielschichtigen Probleme erfordern kohärente Lösungen. Wie gehen andere Länder damit um? Ich nenne zentrale Problemfelder nur in Stichworten: Plurale Elternschaft – Doppelte Vaterschaft – Gespaltene Mutterschaft. Welche für alle Beteiligten stimmigen Lösungen sind denkbar, ohne jemandem ein Recht abzuschneiden, das unsere Verfassung ihm zugesteht und unserem Menschenbild entspricht?

Die Fragen, was die Grundlagen und die Grundwerte des Familienrechts sind oder sein sollen, müssen deshalb immer wieder neu gestellt werden. Das Familienrecht bietet die Chance – gleichzeitig aber auch das Risiko –, dass Recht zu einer Veränderung beitragen kann. Im Gegensatz zu der ansonsten konservierenden Rolle des Rechts sind hier in der Vergangenheit häufig gesellschaftliche Veränderungen nicht nur nachvollzogen, sondern sogar initiiert worden. Auch in jüngster Zeit ist das Familienrecht in eine unmittelbare Wechselwirkung zu bedeutenden gesellschaftlichen Veränderungen getreten: Eine neue Vaterrolle, der Rollenwechsel der Frau, ein veränderter Blick der Gesellschaft auf das Kind werden in Gesetzesnovellen sichtbar.

Wohin steuert unser Familienrecht überhaupt? Erfüllt es vor allem die Erfordernisse eines kindeswohlorientierten Familienrechts? Es war, ist und bleibt unsere erste Pflicht, bei allen Veränderungen nicht zu vergessen, den Kindern unseren besonderen Schutz angedeihen zu lassen. Unser Augenmerk muss deshalb in der Praxis insbesondere auch darauf gerichtet sein, dass es – genau betrachtet – nicht bloße Elterninteressen sind, die das Kindeswohl überlagern und verdrä...

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