Auch wenn man davon ausgeht, dass die Verschiedengeschlechtlichkeit begrifflicher Bestandteil des Instituts Ehe i.S.d. Art. 6 Abs. 1 GG ist, folgt hieraus nicht kurzschlussartig, dass eine Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare verfassungswidrig wäre.[58] Gerade eine historisch-genetische Auslegung der Verfassung muss strikt zwischen bloßen Vorstellungen im zeitlichen Entstehungskontext des Grundgesetzes und den qua impliziter Verweisung nach der jeweiligen Regelungsfunktion zum Verfassungsinhalt gemachten Kontexten unterscheiden, die an der normativen Geltung teilhaben.[59]

[58] So aber etwa Schmidt, NJW 2017, 2225 (2227 f.).
[59] Insoweit vorbildlich BVerfG, Beschl. v. 10.10.2017 – 1 BvR 2019/16, Rn 50: Bei der Differenzierung von Männern und Frauen in Art. 3 Abs. 2 GG "handelte es sich schon damals nicht um die Feststellung, eine Geschlechterbinarität sei von Verfassungs wegen vorgegeben, sondern um eine bloße Beschreibung des zum damaligen Zeitpunkt vorherrschenden gesellschaftlichen und rechtlichen Verständnisses der Geschlechtszugehörigkeit."

aa) Ehe-Funktionsschutz statt Schutz einer guten Ordnung

Auch Institutsgarantien beziehen sich zwar auf Herkömmliches und Traditionelles, auf das im Zeitpunkt der Normsetzung verwiesen wird, schützen dieses aber lediglich gegen Abschaffung oder Funktionsbeeinträchtigung. Es geht auch bei Institutsgarantien nicht um den Erhalt einer “guten Ordnung' zum Selbstzweck,[60] sondern um den Schutz der mit einem Institut verbundenen objektiven Ordnungsfunktionen, die rechtsinfrastrukturelle Grundlage von Freiheitsentfaltung in einem bestimmten Lebensbereich sind. Verfassungsrechtliche Institutsgarantien bewirken daher zwar typischerweise eine – gewollte – Privilegierung bestimmter Freiheitsentscheidungen gegenüber anderen, rechtfertigen also verfassungsimmanent spezifische Ungleichbehandlungen, sind aber in der Regel kein verfassungsunmittelbarer Verbotsgrund, der Freiheitsrechtsentfaltung außerhalb des geschützten Lebensbereichs unterbinden soll. Verfassungswidrig wäre hiernach eine Abweichung vom Ehebegriff des Art. 6 Abs. 1 GG auf einfachgesetzlicher Ebene nur dann, wenn hierdurch auch das geschützte Institut in seiner familienrechtlichen Fungibilität gefährdet oder beeinträchtigt wäre.[61] Dass der institutionelle Gehalt des Art. 6 GG historisch bedingt bestimmte familiäre Konstellationen nicht im Blick hatte, weil diese "schlicht außerhalb des damaligen Vorstellungshorizonts" lagen, bedeutet – so das BVerfG – deshalb nicht auch zwangsläufig zugleich "eine bewusste Entgegensetzung zur Anerkennung" anderer Formen.[62] Dies gilt auch für den Eheschutz durch Art. 6 Abs. 1 GG, der zwar einerseits die Ehe unter einen besonderen Schutz stellt, den andere Lebensgemeinschaften von Verfassung wegen nicht genießen, andererseits aber dem Gesetzgeber auch nicht verbietet, anderen – von vornherein nicht in Konkurrenz zur Ehe stehenden – familienrechtlichen Instituten vergleichbare Vorteile zuzugestehen.[63]

[60] Missverständliches obiter dictum aber bei BVerfGE 25, 167 (196) aus dem Jahr 1969, was getrost als historisierbare Singularität qualifiziert werden kann; so zutreffend Germann, VVDStRL 73 (2014), 257 (269).
[61] Ähnlich wie hier Meyer, FamRZ 2017, 1281 (1283).
[62] BVerfGE 133, 59 (79).
[63] BVerfGE 105, 313 (348); 124, 199 (226).

bb) Ehegrundrecht als liberales besonderes Persönlichkeitsrecht

Art. 6 Abs. 1 GG ist zudem zuvörderst ein liberales Freiheitsgrundrecht, das auf Abwehr staatlicher Eingriffe gerichtet ist, aber kein petrifizierter Imperativ einer bestimmten Sexualmoral bei Gründung der Bundesrepublik Deutschland.[64] Auch Einrichtungsgarantien sind auf der Grundlage eines liberalen Grundrechtsverständnisses zu erklären[65] und lassen sich nicht gegen ihre Primärfunktion des Freiheitsschutzes ausspielen. Schon im Parlamentarischen Rat wurde der Schutz von Ehe und Familie damit begründet, dass diese wesentlich zur Entfaltung der Per sönlichkeit gehörten.[66] Ehe ist also kein Entwurf einer konkreten Lebensordnung, in die sich einzufügen den Menschen konstitutionell abverlangt werden sollte, sondern staatliches Schutzangebot.[67] Sinn und Zweck des Ehegrundrechts besteht darin, die individuellen Grundrechtsträgerinnen und -träger in einer besonderen, auf Dauer angelegten und rechtlich abgesicherten Solidar- und Lebensgemeinschaft als sozialen Lebensbereich gegen staatliche Eingriffe in den Bestand der Ehe oder den Inhalt der Eheführung zu schützen.[68] Der Eheschutz hat aber von vornherein nicht die Funktion, eine heterosexuell geprägte Gesellschaftsordnung vor Irritationen zu bewahren.[69] Als besonderes Persönlichkeitsrecht richtet sich auch Art. 6 Abs. 1 GG innerhalb seines Schutzbereichs gegen eine Einengung durch externe Identitätserwartungen,[70] hat aber nicht den Zweck, außerhalb des Schutzbereichs solche Erwartungen zu oktroyieren. Art. 6 Abs. 1 GG als Grundrecht soll – anders gewendet – negatorisch Ehepaaren Freiheit sichern, nicht prohibitiv Eheverbote für Paare erzwingen, die nicht unter das herkömmliche Bild der Geschlechtszugehörigkeit fallen.

[64] Eine freiheitsbeschrän...

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