Art. 6 Abs. 1 GG ist zudem zuvörderst ein liberales Freiheitsgrundrecht, das auf Abwehr staatlicher Eingriffe gerichtet ist, aber kein petrifizierter Imperativ einer bestimmten Sexualmoral bei Gründung der Bundesrepublik Deutschland.[64] Auch Einrichtungsgarantien sind auf der Grundlage eines liberalen Grundrechtsverständnisses zu erklären[65] und lassen sich nicht gegen ihre Primärfunktion des Freiheitsschutzes ausspielen. Schon im Parlamentarischen Rat wurde der Schutz von Ehe und Familie damit begründet, dass diese wesentlich zur Entfaltung der Per sönlichkeit gehörten.[66] Ehe ist also kein Entwurf einer konkreten Lebensordnung, in die sich einzufügen den Menschen konstitutionell abverlangt werden sollte, sondern staatliches Schutzangebot.[67] Sinn und Zweck des Ehegrundrechts besteht darin, die individuellen Grundrechtsträgerinnen und -träger in einer besonderen, auf Dauer angelegten und rechtlich abgesicherten Solidar- und Lebensgemeinschaft als sozialen Lebensbereich gegen staatliche Eingriffe in den Bestand der Ehe oder den Inhalt der Eheführung zu schützen.[68] Der Eheschutz hat aber von vornherein nicht die Funktion, eine heterosexuell geprägte Gesellschaftsordnung vor Irritationen zu bewahren.[69] Als besonderes Persönlichkeitsrecht richtet sich auch Art. 6 Abs. 1 GG innerhalb seines Schutzbereichs gegen eine Einengung durch externe Identitätserwartungen,[70] hat aber nicht den Zweck, außerhalb des Schutzbereichs solche Erwartungen zu oktroyieren. Art. 6 Abs. 1 GG als Grundrecht soll – anders gewendet – negatorisch Ehepaaren Freiheit sichern, nicht prohibitiv Eheverbote für Paare erzwingen, die nicht unter das herkömmliche Bild der Geschlechtszugehörigkeit fallen.

[64] Eine freiheitsbeschränkende Moralisierung des Art. 6 Abs. 1 GG lässt sich kaum auf die Erwägungen und Motive im parlamentarischen Rat stützen und ist eher ein Konstrukt der Nachkriegszeit. Diskutiert wurde Fragen, ob sich eine solche Bestimmung systematisch in die Verfassung füge, die Sorge einer sozialrevolutionären Aufhebung der Ehe durch einfache Mehrheit und die Stellung der nicht ehelichen Kinder. Die Frage nach einer rechtserheblichen Moralisierung wurde sogar abwehrend thematisiert, weil (in Bezug auf einen semantisch unglücklich formulierten Vorentwurf) die Sorge geäußert würde, man müsse dann ja von Verfassung wegen den Ehebruch unter Strafe stellen. Dem wurde – in der Syntax eines liberalen Freiheitsrechts – jedoch entgegengehalten, dass ein Verfassungsartikel niemals strafrechtliche Konsequenzen zeitige, es sei denn, dies werde in der Verfassung ausdrücklich angeordnet. So Abgeordneter Süsterhenn (CDU), zit. nach von Doemming/Füßlein/Matz, JöR 1 (1951), 95.
[65] Mager, Einrichtungsgarantien, 2003, S. 80 ff.
[66] Abgeordneter von Mangoldt (CDU), zit. nach von Doemming/Füßlein/Matz, JöR 1 (1951), 93.
[67] Cornils (Fn 49), S. 367.
[68] Cornils (Fn 49), S. 356 f.; Mager (Fn 65), S. 202. Abweichend und ohne plausible Begründung Brosius-Gersorf (Fn 31), Art. 6 Rn 48, wonach die Ehe "nicht im Interesse der individuellen Freiheit der Ehepartner geschützt" sei. Dies ist schon angesichts der Entstehungsgeschichte eine fernliegende Deutung.
[69] Vgl. ähnlich Volkmann, VerfBlog, 2017/7/06 (Fn 48): Verfassungen "sollen auch nicht bestimmte kulturelle Prägungen der Gesellschaft garantieren und fortschreiben; die einzige Kultur, auf deren Verdauerung eine Verfassung zielt, ist eine Kultur der Freiheit, deren Mitglieder sich wechselseitig als Rechtspersonen mit gleicher Würde anerkennen und respektieren".
[70] Für das Allgemeine Persönlichkeitsrecht Britz, Freie Entfaltung durch Selbstdarstellung, 2007, S. 29.

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