Gegen die Anerkennung eines – allgemein skeptisch beurteilten[90] – "Verfassungswandels" im Sinne einer gesellschaftsakzessorischen Veränderung von Norminhalten durch Interpretation spricht vor allem, dass dieser die formalisierten Verfahren der Verfassungsänderung nach Art. 79 GG unterläuft.[91] Die Verfassungsänderung ist der primäre Ort, gesellschaftliche Veränderungen politisch in Verfassungsrecht zu übersetzen. Gewiss gibt es daneben auch noch andere – normimmanente – Öffnungen für gesellschaftliche Veränderungsprozesse, um "zeitgebundenen Antworten der Verfassung"[92] Ventile zu bieten: Vor allem der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verweist mit Eignung und Erforderlichkeit auf außerrechtliche (faktische) Relationen,[93] die sich auch unabhängig vom Recht verschieben können. Veränderte gesellschaftliche Wahrnehmungen und Reaktionsbedürfnisse können ebenfalls hierunter fallen, zumal staatlich nicht steuerbare Rationalitätsressourcen der Gesellschaft (von der wissenschaftlichen Erkenntnis über Prozesse praktischer Wissensgenerierung bis zu ethischen Grundhaltungen) staatliche Organe mit den jeweiligen Rationalitätserwartungen der Zeit konfrontieren.[94] Gesellschaftliche Kommunikationsprozesse können Problemwahrnehmungen verändern oder Perspektiven schärfen, was dann auch mittelbar die Verfassungsgerichtsbarkeit erreicht.[95] Gerade der Umgang mit Homosexualität im Recht zeigt dies.[96] Hierbei geht es nicht nur um die richtersoziologische Beschreibung sozialer Prägungen der Entscheidungsfindung, sondern um notwendige Rückkopplungen der Verhältnismäßigkeitsprüfungen an gesellschaftlichen Wandel, der relationale Interessenabwägungen nicht unberührt lassen kann. Auch das Sittengesetz (Art. 2 Abs. 1 GG) ist eine – zwischen pluralistischer Gesellschaft und bürokratischer Verrechtlichungsmaschine freilich an den Rand der Bedeutungslosigkeit gedrängte – Verweisung auf soziale Verhaltenserwartungen,[97] die sich in der Zeit ändern können. Schließlich ist die Subsumption konkreter Fälle im Rahmen der Konkretisierung und Individualisierung des Rechts als wertungsabhängiger Akt intertemporalen Perspektivenverschiebungen und epistemischen Fortschritten unterworfen.

Nicht erklärbar bleibt es aber, wie sich der abstrakt-generelle Inhalt einer Norm (und nicht nur die Sicht ihrer Interpreten[98]) dadurch ändern soll, dass relevante Teile (welche eigentlich?) der Gesellschaft eine andere Einstellung zu einer Norm entwickeln. Die strukturimmanente Kontrafaktizität von Normen bedingt es, dass zwischen normativer Geltung und faktischen Anwendungspraktiken unterschieden werden muss und abweichende Praktiken den Norminhalt nicht in Frage stellen können. Das schillernde Bild einer living constitution, wie es in Bezug auf den hier relevanten Rechtskreis durch den EGMR praktiziert wird, ist schon deshalb keine auf das Grundgesetz übertragbare Matrix, weil es der EMRK einerseits an einem – unter Art. 79 GG beinahe im Jahrestakt aktiven – Änderungsgesetzgeber fehlt, andererseits aber schon aufgrund der Pluralität der in die Deutung der Menschenrechte einfließenden Rechtskulturen und Traditionen das Normverständnis inhärent offener und elastischer sein muss.[99]

Dies schließt nicht aus, dass man auf Interpretationsebene später zu besseren Einsichten über richtige Norminhalte gelangt. Viele Deutungen des Grundgesetzes haben sich in der frühen Rechtsprechung des BVerfG und einer ihren Zeitkontexten verhafteten Wissenschaft in den 1950er und 1960er Jahren ausdifferenziert, sind ihrerseits inhaltlich kontingent und werden nicht deshalb zu authentischen Verständnissen, weil sie auf der Zeitachse näher am Jahr 1949 liegen als heutige Interpretationen. Allem Klagen über eine bisweilen ausufernde Detaildichte zum Trotz ist Verfassungsrechtsprechung heute in der Regel dogmatisch präziser, systematischer und durch eine breitere Perspektive auf eine pluralistische Palette an Deutungsangeboten auch ausgewogener. Dass sich die Rechtsprechung des BVerfG aber mit der eingespielten Bestimmung des Ehebegriffs seit einem – soweit ersichtlich – ersten Definitionsversuch im Jahr 1959[100] bis zur letzten Affirmative im Jahr 2013[101] nicht einfach nur geirrt hat (was epistemisch nie auszuschließen ist), belegen doch jedenfalls die dargelegten verfassungsdogmatischen Gründe (II. 2.).

Ergänzend zu berücksichtigen ist die Rolle des verfassungsändernden Gesetzgebers als Gegenspieler in Wartestellung zur Verfassungsrechtsprechung,[102] als politische fleet in being, um auch der Macht der Verfassungsgerichtsbarkeit politisch-demokratisch Reaktionsmöglichkeiten entgegenstellen zu können. Der verfassungsändernde Gesetzgeber kann nicht nur aktiv eingreifen, wenn Ergebnisse von Rechtsprechung einer verfassungsändernden Mehrheit inakzeptabel erscheinen (eher ein extrem seltener Ausnahmefall[103]); der potentielle verfassungsändernde Gesetzgeber bestätigt auch sedimentierte und allgemein akzeptierte verfassungsgerichtliche Deutungen, indem er nicht eingreift bzw. ...

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