Renate Bieritz-Harder, Wolfgang Conradis, Stephan Thie (Hrsg.)Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2020, 12. Aufl., 1594 SeitenISBN 978-3-8487-6359-778 EUR

Rechtsänderungen im Sozialrecht sind inzwischen schon als "konstitutiv" zu bezeichnen (Münder, Einleitung Rn 30) – das Recht der Sozialhilfe ist davon bis in die jüngste Zeit ganz besonders betroffen. So ist es hilfreich, dass in der prominenten Reihe der Lehr- und Praxiskommentare gerade zur rechten Zeit im Juni 2020 die 12. Auflage des Kommentars zum SGB XII erschienen ist. Unter der Federführung der Herausgeber Renate Bieritz-Harder, Wolfgang Conradis und Stephan Thie hat sich das 16-köpfige Autorenteam ausgewiesener Experten aus Praxis und Wissenschaft der anspruchsvollen Aufgabe gewidmet, die Kommentierung des SGB XII auf den neuesten Stand zu bringen. Daraus ist ein auf inzwischen fast 1.600 Seiten angewachsenes Werk entstanden, das nicht nur die zum Jahreswechsel in Kraft getretenen Änderungen bei der Eingliederungshilfe und die Folgen aus dem Angehörigen-Entlastungsgesetz integriert, sondern auch die infolge der Corona-Krise teilweise befristeten Änderungen durch das Sozialschutz Paket einschließlich des bei Drucklegung noch nicht verabschiedeten zweiten Pakets aufnimmt (Einleitung Rn 40). Aktueller kann ein Kommentar zum SGB XII nicht sein.

Das Werk gliedert sich in eine kurze Einleitung zum Stellenwert der Sozialhilfe, die umfassende Kommentierung der einzelnen Vorschriften des SGB XII, eine sich daran anschließende Kommentierung des Asylbewerberleistungsgesetzes sowie abschließende Hinweise zum sozialrechtlichen Verwaltungs- und Gerichtsverfahren. Ergänzt wird die Darstellung durch ein umfangreiches Verzeichnis der einschlägigen Literatur sowie ein ausführliches Stichwortverzeichnis.

Auch in der Neuauflage folgt der Kommentar seiner traditionellen Linie, wissenschaftlich fundiert, meinungsstark und kritisch den erreichten Stand von Gesetzgebung und Rechtsprechung abzubilden. Dass ihm dies gelingt, sei pars pro toto an drei aus familienrechtlicher Sicht relevanten Beispielen kurz beleuchtet.

So skizziert Münder in seiner Einleitung die Entwicklung dieses Rechtsgebiets mit seinen Leitideen und Strukturen. Überzeugend arbeitet er den Funktionsverlust heraus, den das SGB XII als Nachfolger des BSHG erlitten hat, indem nunmehr dem gleichzeitig in Kraft getretenen SGB II für alle erwerbsfähigen hilfebedürftigen Personen die Funktion eines untersten Netzes der sozialen Sicherung zukommt (Einleitung Rn 14). So erfordert der "radikale Ausschluss" der meisten Hilfebedürftigen vom SGB XII eine klare Trennung zwischen den beiden Leistungssystemen – ein in der Rechtsprechung nicht immer akzeptierter Systemwechsel.

In ihrer Kommentierung zur Ermittlung der Regelbedarfe (§ 28 SGB XII mit RBEG) geht Lenze ausführlich auf die Rechtsprechung des BVerfG zur Existenzsicherung (Rn 4 ff.) mit den daran zu messenden regelsatzrelevanten Ausgaben (Rn 17) ein. In ihren Ausführungen zum Regelbedarfsermittlungsgesetz setzt sie sich anschließend detailliert mit den Berechnungsgrundlagen auseinander und kritisiert nachdrücklich Erfassungsdefizite beim Familien- und Kindesbedarf einschließlich der Altersgruppeneinteilung (RBEG § 4 Rn 2; § 6 Rn 2 f.).

Bei § 94 SGB XII betritt Conradis Neuland, nachdem der Gesetzgeber durch das Angehörigen-Entlastungsgesetz die Berücksichtigung von Unterhaltsansprüchen erheblich eingeschränkt hat – eine weitreichende Gesetzesänderung, zu der es noch keine praktischen Erfahrungen gibt. Ab Rn 33 werden die praktischen Auswirkungen der nunmehr fast ausnahmslos geltenden 100.000 Euro-Grenze einschließlich ihrer unterhaltsrechtlichen Folgen sowie des Auskunftsanspruchs umfangreich erläutert. Sowohl in diesem Kontext als auch allgemein spricht sich Conradis dafür aus, ausgezahlte Sozialleistungen allgemein als bedürftigkeitsminderndes Einkommen zu berücksichtigen, soweit diese nicht dem Regress unterliegen (Rn 34, 79).

So bietet der Kommentar immer wieder Anlass, sich eingehend mit der durch Gesetz und Rechtsprechung geprägten Rechtslage auseinanderzusetzen und vermeintliche Gewissheiten kritisch zu hinterfragen. In seiner klaren, schnörkellosen Darstellung eignet sich das Buch für alle im Familienrecht tätigen Professionen als Wegweiser, um auf sozialrechtliche Fragestellungen schnell verlässliche Antworten zu erhalten. Selbst wenn das Sozialhilferecht nicht unbedingt im Zentrum des Interesses steht, bedarf eine sachgerechte Rechtsanwendung eines fundierten Verständnisses für dessen Systematik und seine Ausstrahlung auf das familienrechtliche Normengefüge.

Fazit:

Die vorliegende Kommentierung zum SGB XII ist der familienrechtlichen Beratungspraxis und Rechtsprechung als ein hierfür in jeder Hinsicht alltagstaugliches Hilfsmittel besonders zu empfehlen.

Autor: Heinrich Schürmann

Vors. Richter am OLG a.D. Heinrich Schürmann, Münster

FF 11/2020, S. 467 - 468

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