BVerfG, Stattgebender Kammerbeschl. v. 13.7.2020 – 1 BvR 631/19, juris = FamRZ 2020, 1559

1. Angesichts der Regelungen der §§ 1626a BGB, 155a Abs. 3 FamFG werden die Anforderungen an die Erfolgsaussichten (§ 114 Abs. 1 S. 1 ZPO, hier i.V.m. § 76 Abs. 1 FamFG) der angestrebten Sorgerechtsübertragung überspannt, wenn die Kindesmutter einen nach § 1626a Abs. 2 BGB durchgreifenden, gegen eine gemeinsame elterliche Sorge sprechenden Grund nicht vorgebracht hat (vgl. § 1626a Abs. 2 S. 2 BGB) und unklar bleibt, auf welche tatsächlichen Umstände die Annahme einer "offenkundig gestörten Kommunikationsebene" der Eltern gestützt wird.

2. Die Bedeutung der Rechtsschutzgleichheit wird verkannt, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung als mutwillig i.S.d. § 114 Abs. 2 ZPO eingestuft wird, obschon die Voraussetzungen hierfür fehlen.

a) So existiert kein Erfahrungssatz, wonach ein bemittelter Prozessbeteiligter zunächst die gefundene Regelung im Umgangsverfahren in der Praxis umsetzen und hierbei eine Verbesserung des Verhältnisses auf der Elternebene abwarten würde.

b) Es existiert auch kein Erfahrungssatz, wonach ein bemittelter Verfahrensbeteiligter stets zur Regelung von Umgangsrecht und elterlicher Sorge ein gemeinsames Verfahren anhängig machen und nicht zwei getrennte Verfahren beantragen würde. Für das getrennte Einleiten eines Sorgerechtsantrags und eines Umgangsantrags kann es im Einzelfall sachliche Gründe geben. Das Gericht muss Feststellungen zum Fehlen solcher sachlicher Gründe treffen, wenn es Mutwillen bejahen will.

(red. LS)

BVerfG, Nichtannahmebeschl. v. 10.6.2020 – 1 BvR 572/20, juris = FamRZ 2020, 1562

1. Bei gegen gerichtliche Entscheidungen gerichteten Verfassungsbeschwerden zählt zu den Anforderungen an die hinreichende Begründung auch die Vorlage der angegriffenen Entscheidungen und derjenigen Schriftstücke, ohne deren Kenntnis sich die Berechtigung der geltend gemachten Rügen nicht beurteilen lässt, zumindest aber deren Wiedergabe ihrem wesentlichen Inhalt nach. Nur so wird das Bundesverfassungsgericht in die Lage versetzt, zu beurteilen, ob die Entscheidungen mit dem Grundgesetz in Einklang stehen (vgl. BVerfGE 93, 266 <288>; 129, 269 <278>). (Rn 12)

2. Der Beschwerdeführer muss sich die Unterlagen, die Grundlage der gerichtlichen Entscheidung sind, durch Akteneinsicht nach § 13 FamFG verschaffen (vgl. BVerfG, Beschl. der 1. Kammer des Ersten Senats v. 24.6.2002 – 1 BvR 575/02, Rn 34). Das Akteneinsichtsrecht aus § 13 Abs. 1 FamFG bezieht sich auch auf die Anlagen der Akten des gegenständlichen Verfahrens sowie auf beigezogene Akten, wenn diese – wie hier – zur Grundlage der Entscheidungsfindung gemacht wurden (vgl. BGH, Beschl. v. 19.7.2018 – V ZB 223/17, Rn 8; Borth/Grandel, in: Musielak/Borth, FamFG, 6. Aufl. 2018, § 13 Rn 3; Sternal, in: Keidel, FamFG, 20. Aufl. 2020, § 13 Rn 21 m.w.N.). (Rn 16)

3. Wegen der unterbliebenen Vorlage für die Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde erforderlicher Unterlagen muss dahinstehen, ob die Beschlüsse des Amtsgerichts und des Oberlandesgerichts über die vorläufige Entziehung des Sorgerechts den dafür maßgeblichen verfassungsrechtlichen Anforderungen aus Art. 6 Abs. 2 und Abs. 3 GG genügen, auch wenn daran – soweit ohne die fehlenden Unterlagen beurteilbar – Zweifel bestehen. Diese Zweifel rühren vor allem aus den wenig konkreten Feststellungen der Fachgerichte zu Art und Ausmaß der Kindeswohlgefährdung her. (Rn 20)

4. Für die Fachgerichte ergibt sich aus Art. 6 Abs. 2 und Abs. 3 GG das Gebot, die dem Kind drohenden Schäden ihrer Art, Schwere und Eintrittswahrscheinlichkeit nach konkret zu benennen und sie vor dem Hintergrund des grundrechtlichen Schutzes vor der Trennung des Kindes von seinen Eltern zu bewerten. Die Fachgerichte werden dem regelmäßig nicht gerecht, wenn sie ihren Blick nur auf die Verhaltensweisen der Eltern lenken, ohne die sich daraus ergebenden schwerwiegenden Konsequenzen für die Eltern darzulegen (vgl. BVerfG, Beschl. der 1. Kammer des Ersten Senats v. 14.6.2014 – 1 BvR 725/14, Rn 24 und 26 f.; Beschl. der 1. Kammer des Ersten Senats v. 19.11.2014 – 1 BvR 1178/14, Rn 37 m.w.N.). (Rn 23)

(red. LS)

BVerfG, Ablehnung einstw. Anordnung v. 16.7.2020 – 1 BvR 1525/20, juris = FamRZ 2020, 1565

Bei der nach § 32 Abs. 1 BVerfGG gebotenen Folgenabwägung wiegen die Nachteile für das Kindeswohl, die bei Nichtergehen der einstweiligen Anordnung einträten, weniger schwer als die Folgen, die sich ergäben, wenn die einstweilige Anordnung erginge, die Verfassungsbeschwerde später aber erfolglos wäre:

a) Erginge die einstweilige Anordnung nicht, würden die angegriffenen Entscheidungen aber später auf die Verfassungsbeschwerde hin aufgehoben, so würde das Kind aufgrund einer entsprechenden Entscheidung des Ergänzungspflegers in einer Förderschule beschult. Es müsste dann gegen den Willen seiner alleinsorgeberechtigten Mutter einen Schulwechsel hinnehmen und möglicherweise – nach Erfolg der Verfassungsbeschwerde – einen erneuten, mit erheblicher Belastung verbundenen ...

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