SGB XII § 19 Abs. 2 S. 2 § 27 ff. § 41 ff. § 43 Abs. 3 S. 6 § 94 Abs. 3 S. 1 Nr. 2; BGB § 1602 § 1606 Abs. 3 S. 1 § 242

Leitsatz

1. Für den Unterhaltsberechtigten besteht grundsätzlich die Obliegenheit zur Inanspruchnahme von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (§§ 41 ff. SGB XII); eine Verletzung dieser Obliegenheit kann zur Anrechnung fiktiver Einkünfte in der Höhe der entgangenen Leistungen führen.

2. Die Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ist gemäß § 43 Abs. 3 S. 6 SGB XII schon dann insgesamt ausgeschlossen, wenn bei einer Mehrzahl von unterhaltspflichtigen Kindern des Leistungsberechtigten nur eines der Kinder über steuerliche Gesamteinkünfte in Höhe von 100.000 EUR oder mehr verfügt (im Anschluss an BSG, 25.4.2013, B 8 SO 21/11 R, FamRZ 2014, 385).

3. Erhält der Unterhaltsberechtigte aus diesem Grund nachrangige Hilfe zum Lebensunterhalt (§§ 19 Abs. 2 S. 2, 27 ff. SGB XII) und haften mehrere unterhaltspflichtige Kinder gemäß § 1606 Abs. 3 S. 1 BGB anteilig für den Elternunterhalt, stellt der gesetzliche Übergang des Unterhaltsanspruchs auf den Sozialhilfeträger für ein privilegiertes Kind mit einem unter 100.000 EUR liegenden steuerlichen Gesamteinkommen eine unbillige Härte im Sinne von § 94 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 SGB XII dar, wenn und soweit dieses Kind den unterhaltsberechtigten Elternteil nur wegen des Vorhandenseins nicht privilegierter Geschwister nicht auf die bedarfsdeckende Inanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen verweisen kann.

4. In diesem Fall kann das privilegierte Kind der Geltendmachung des Unterhaltsanspruchs durch den unterhaltsberechtigten Elternteil den Einwand der unzulässigen Rechtsausübung (§ 242 BGB) entgegenhalten, und zwar sowohl wegen vergangener als auch wegen zukünftiger Unterhaltszeiträume.

BGH, Beschl. v. 8.7.2015 – XII ZB 56/14 (OLG Hamm, AG Menden)

1 Gründe:

A. [1] Die Beteiligten streiten um Elternunterhalt für die Zeit seit August 2011.

[2] Die 1934 geborene Antragstellerin ist verwitwet und lebt im eigenen Haushalt. Sie hat in den hier streitigen Unterhaltszeiträumen einen durch Renteneinkünfte und Eigenverdienst nicht gedeckten Unterhaltsbedarf in wechselnder Höhe zwischen 647 EUR und 756 EUR. Der Antragsgegner ist der Sohn der Antragstellerin. Er bezieht ein jährliches Bruttoeinkommen in Höhe von rund 76.500 EUR. Die Antragstellerin hat einen weiteren Sohn und eine Tochter. Der Bruder des Antragsgegners erzielt jährliche Bruttoeinkünfte in Höhe von mehr als 150.000 EUR. Seine Schwester ist bei einem Bruttojahreseinkommen in Höhe von rund 21.000 EUR unstreitig für die Zahlung von Elternunterhalt an die Antragstellerin nicht leistungsfähig.

[3] Wegen ihres ungedeckten Unterhaltsbedarfs hatte die Antragstellerin die Bewilligung von Leistungen nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (im Folgenden: Grundsicherungsleistungen) beantragt. Die Stadt I. lehnte diesen Antrag wegen der über der Einkommensgrenze des § 43 Abs. 3 S. 1 SGB XII liegenden Einkünfte des Bruders des Antragsgegners ab und gewährte der Antragstellerin statt dessen Leistungen nach dem Dritten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (Hilfe zum Lebensunterhalt) unter Rückübertragung der auf sie übergegangenen Unterhaltsansprüche zum Zwecke der gerichtlichen Geltendmachung gegen den Antragsgegner und seinen Bruder.

[4] Im vorliegenden Verfahren hat die Antragstellerin zunächst darauf angetragen, den Antragsgegner zur Zahlung eines Unterhaltsrückstands in Höhe von 3.117,75 EUR für den Zeitraum von August 2011 bis Oktober 2012 und eines laufenden Unterhalts in Höhe von monatlich 207,85 EUR ab November 2012 zu verpflichten. Das Amtsgericht hat den Antrag zurückgewiesen. Gegen diese Entscheidung hat die Antragstellerin Beschwerde eingelegt. Sie hat ihren Antrag im Beschwerdeverfahren teilweise erweitert und zuletzt von dem Antragsgegner die Zahlung eines Unterhaltsrückstands für den Zeitraum von August 2011 bis August 2013 in Höhe von 7.779,50 EUR nebst Zinsen und einen laufenden Unterhalt in Höhe von monatlich 346,71 EUR ab September 2013 verlangt. Das Oberlandesgericht hat die Beschwerde zurückgewiesen.

[5] Hiergegen richtet sich die zugelassene Rechtsbeschwerde der Antragstellerin, mit der sie ihre Anträge noch wegen eines Unterhaltsrückstands in Höhe von 3.725 EUR für den Zeitraum von August 2011 bis August 2013 sowie wegen eines laufenden Unterhalts in Höhe von 180 EUR ab September 2013 bzw. in Höhe von 182 EUR ab Januar 2014 weiterverfolgt.

B. [6] Die Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg.

I. …

II. …

[11] 1. Richtig ist allerdings der rechtliche Ausgangspunkt des Beschwerdegerichts. Liegen die Voraussetzungen für die Bewilligung von Grundsicherungsleistungen nach den §§ 41 ff. SGB XII vor, werden diese unabhängig von etwaigen Unterhaltsansprüchen gegen Eltern und Kinder gewährt (vgl. BSG FamRZ 2009, 44 Rn 16). Sie sind daher dem Unterhaltsanspruch gegenüber nicht nachrangig, sondern gelten als Einkommen und reduzieren dadurch den unterhaltsrec...

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