Anmerkung zur Entscheidung des BGH vom 4.5.2011 – XII ZR 70/09

Einführung

Mit dem für die amtliche Sammlung vorgesehenen Urteil vom 4.5.2011[1] hat der Bundesgerichtshof seine Auffassung zur unterhaltsrechtlichen Privilegierung der Erstausbildung eines gesteigert Unterhaltspflichtigen noch einmal geschärft und entschieden, dass die Erstausbildung zum eigenen Lebensbedarf des Unterpflichtigen gehört, den dieser auch bei Bestehen einer gesteigerten Unterhaltspflicht gegenüber minderjährigen Kindern vorrangig befriedigen darf.

[1] Siehe FamRZ 2011, 1041 m. Anm. Hoppenz = NJW 2011, 1874 m. Anm. Graba = JAmt 2011, 339 m. Anm. CS. Vgl. auch Norpoth, FamFR 2011, 289 ff.

I. Sachverhalt

1. Um was geht es? Die bei Erlass der Entscheidung 30 Jahre alte Klägerin – in der Sache war noch "altes" Verfahrensrecht anwendbar – begehrt die Abänderung von zwei im März 2004 errichteten Jugendamtsurkunden, in denen sie sich unter Berücksichtigung von § 1612b Abs. 5 BGB a.F. zur Zahlung von 100 % des jeweiligen Regelbetrages der jeweiligen Altersstufe der Regelbetragverordnung verpflichtet hatte. Die Beklagten, ihre Kinder, wurden im Dezember 1996 bzw. im September 1998 geboren. Ein Kind lebt im Haushalt des Vaters. Das zweite Kind ist schwerbehindert; es lebt zwar in einem Kinderheim, hält sich aber regelmäßig im Haushalt des Vaters auf, der auch dessen weiteren Angelegenheiten regelt. Bei der Geburt des ersten Kindes war die Klägerin erst 16 Jahre alt und noch Schülerin; als das zweite Kind auf die Welt kam, war sie gerade 18. Später holte sie ihren Hauptschulabschluss nach und nahm Erziehungsurlaub. Im Anschluss arbeitete sie in wechselnden Anstellungen teilweise im Geringverdienerbereich oder war arbeitslos. Im Januar 2009 hat sie eine zweijährige Ausbildung zur Bürokauffrau aufgenommen.

2. Der Bundesgerichtshof hat die Entscheidung der Vorinstanz, des Oberlandesgerichts Braunschweig,[2] bestätigt und die Unterhaltspflicht der Klägerin für ihre beiden Kinder (spätestens) ab der Aufnahme ihrer Ausbildung zur Bürokauffrau auf Null herabgesetzt. Im Urteil wird ausgeführt, dass die Klägerin ausbildungsbedingt nicht in ausreichendem Maße leistungsfähig sei, um den nach den Jugendamtsurkunden geschuldeten Unterhaltsbetrag zu zahlen. Auf die Klage der Mutter seien die Titel daher abzuändern und die Unterhaltspflicht aufzuheben. Eine Zurechnung fiktiver Erwerbseinkünfte für die Zeit ab Aufnahme der Berufsausbildung komme nicht in Betracht, weil der Mutter ein unterhaltsrechtlich leichtfertiges Verhalten nicht zur Last gelegt werden könne: Bei der erforderlichen Abwägung zwischen ihren Rechten auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und individuelle berufliche Selbstverwirklichung gegenüber ihren familienrechtlichen Unterhaltspflichten im Verhältnis zu ihren beiden minderjährigen, unverheirateten Kindern sei der beruflichen Erstausbildung auch dann regelmäßig der Vorrang einzuräumen, wenn eine gesteigerte Unterhaltspflicht nach § 1603 Abs. 2 BGB in Rede stehe. Denn die Erlangung einer angemessenen Vorbildung zu einem Beruf gehöre zum eigenen Lebensbedarf des Unterhaltspflichtigen, den dieser grundsätzlich vorrangig befriedigen dürfe. Die erstmalige Berufsausbildung verbessere die Erwerbsaussichten der Mutter deutlich und sei damit letztlich auch im Interesse der Kinder, da diese altersbedingt noch für längere Zeit unterhaltsbedürftig sein werden und auf diese Weise die Chance auf eine nachhaltige, dauerhafte Sicherung ihres Unterhalts erhalten. Dass die Mutter ihre berufliche Erstausbildung nach mehrjähriger anderweitiger Erwerbstätigkeit und erst im Alter von 30 Jahren aufnehme, gereiche ihr unterhaltsrechtlich aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalles nicht zum Nachteil und bilde daher gleichfalls keinen Anknüpfungspunkt für eine Zurechnung fiktiver Einkünfte.

[2] Urt. v. 24.3.2009 – 2 UF 102/08 (nicht veröffentlicht).

II. Bewertung der Entscheidung

Das Urteil ist uneingeschränkt zu begrüßen: Es liegt auf der Hand, dass eine abgeschlossene Berufsausbildung eine weitaus bessere Gewähr für eine nachhaltige Sicherung des (Kindes-) Unterhalts bietet, wie wenn der Unterhaltspflichtige gezwungen wäre, den notwendigen Unterhalt durch prekäre Aushilfs- oder Gelegenheitsarbeiten zu erwirtschaften. Statistisch belegt ist denn auch, dass fehlende Ausbildung und berufliche Perspektivlosigkeit weitgehend gleichzusetzen sind: Nach dem Bildungsbericht 2010 betrug der Anteil der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss unter 15- bis 17-jährigen Jugendlichen 7,5 %. Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung werden es, der Prognose der Bildungsforscher zufolge, in Zukunft immer schwerer haben, einen Arbeitsplatz zu finden, weil das Angebot an ungelernten Arbeitskräften den tatsächlichen Bedarf dauerhaft deutlich übersteigt.[3] Vor diesem Hintergrund stellt die Entscheidung des Bundesgerichtshofs das richtige Signal dar; die Erstausbildung des Unterhaltspflichtigen wird privilegiert und aus dem Anwendungsbereich von § 1603 Abs. 2 BGB, der gesteigerten Unterhaltspflicht der Eltern gegenüber minderjährigen, ...

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