Argiris Balomatis

Seit dem 1.8.2022 gilt sie also, die neue Verordnung (EU) 2019/1111 vom 25.6.2019. Sie ersetzt die gute alte Brüssel IIa-Verordnung, die uns seit dem 1.3.2005 in Fragen der Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung so treu und zuverlässig zur Seite stand (vgl. Morawitz, Die Brüssel IIb-Verordnung – Was gilt ab 1.8.2022?, FF 2022, 274 ff.).

Die gute Nachricht vorweg: Der Textbaustein zur internationalen Zuständigkeit nach Art. 3 Abs. 1 lit a der EuEheVO muss nicht wesentlich verändert werden. Ersetzen Sie nur die 6 Spiegelstriche durch die Ziffern i bis vi. Auch die Differenzierung aufgrund der Staatsangehörigkeit zwischen dem v. und vi. Spiegelstrich bleibt bestehen. Sie stellt keine Diskriminierung dar, wie der EuGH erst am 10.2.2022 in der Rechtssache C-522/20 (FamRZ 2022, 509) entschieden hat.

Nach wie vor ist der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts nicht konkretisiert oder gar definiert. Das wird auch so bleiben. Die Fülle der Kriterien für die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts hat der EuGH zuletzt in seinem Urt. v. 25.11.2021 in der Rechtssache C-289/20 (FamRZ 2022, 215) recht umfassend dargestellt.

Auch – und das erstaunt – ist umstritten, ob die Brüssel IIb-VO auch für gleichgeschlechtliche Ehen gilt. Die überwiegende Ansicht bejaht dies völlig zu Recht mit dem Argument, mangels Beschränkung sei von einem uneingeschränkten Geltungsbereich der VO auszugehen. Warum kompliziert, wenn es auch einfach geht.

Die Zuständigkeiten für Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung wurden neu gefasst, erweitert, sind aber für das Gros unserer Fälle unverändert geblieben. Nach wie vor ist der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes zum Zeitpunkt der Antragstellung Hauptanknüpfungspunkt. Der Verordnungsgeber würde gerne sehen, dass auch in Kindschaftssachen Gerichtsstandsvereinbarungen getroffen werden und bietet hierzu diverse Möglichkeiten, die für die Praxis kaum relevant sein dürften.

Von großer Bedeutung hingegen ist die Verankerung der Kindesanhörung in Art. 21 der Brüssel IIb-VO als Verfahrensgrundrecht.

Neu ist die Anerkennung (und Vollstreckung) von öffentlichen Urkunden und Vereinbarungen über eine Ehescheidung aus einem anderen Mitgliedstaat ohne besonderes Verfahren, Art. 65 ff. Brüssel IIb-VO. Die Regelung der Anerkennung dieser sogenannten Privatscheidungen war überfällig. In den meisten EU-Mitgliedstaaten wurde das Scheidungsmonopol der Gerichte längst aufgegeben. Deutschland hält (u.a. neben Österreich, Polen und Belgien) noch daran fest.

Gleichwohl werden wir uns mit Privatscheidungen aus anderen Mitgliedstaaten beschäftigen müssen, und zwar nicht erst seit dem 1.8.2022. Der EuGH (Rs. C-646/20) wird demnächst die Vorlagefragen des BGH (FamRZ 2021, 119) entscheiden, ob es sich bei der italienischen Standesamtsscheidung um eine Entscheidung im Sinne der Brüssel IIa-VO handelt. Der Generalanwalt hat in seinen Schlussanträgen vom Mai 2022 diese Frage bejaht und damit gleichzeitig eine großzügige Anerkennungspraxis von Scheidungen außerhalb gerichtlicher Verfahren empfohlen. Dies entspricht letztlich auch dem Grundsatz des wechselseitigen Vertrauens.

Was bedeutet dies für unsere Praxis? Bei Urkunden und Vereinbarungen zur Ehescheidung aus einem Mitgliedstaat, die vor dem 1.8.2022 ergehen, prüfen wir, ob sie in den Anwendungsbereich der Brüssel IIa-VO fallen; hierzu bekommen wir hoffentlich demnächst eine Kochanleitung des EuGH. Für alle Urkunden und Vereinbarungen, die nach dem 1.8.2022 ergehen, können wir von einer automatischen Anerkennung nach Art. 64 ff. Brüssel IIb-VO ausgehen.

Die Europäisierung des Familienrechts geht weiter. Ist das Scheidungsmonopol der Gerichte in Deutschland ein Auslaufmodell?

Autor: Argiris Balomatis

Argiris Balomatis, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Familienrecht, Tübingen

FF 9/2022, S. 337

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