Die Entscheidung gibt Anlass, die Zulässigkeit und die Voraussetzungen einer vorgeburtlichen Sorgeentziehung genauer in den Blick zu nehmen. Die Trennung von Eltern und Kind unmittelbar nach der Geburt stellt den wohl schwerwiegendsten Eingriff in die Grundrechte von Eltern und Kind aus Art. 6 Abs. 2 S. 1, Abs. 3 GG dar. Überraschenderweise findet sich kaum – veröffentlichte – Rechtsprechung zu diesem Thema. Soweit ersichtlich hatte sich bis vor kurzem als einziges Obergericht das OLG Frankfurt a.M. hiermit befasst und entschieden, dass die elterliche Sorge vor der Geburt nicht entzogen werden könne, weil die elterliche Sorge erst mit der Geburt des Kindes entstehe und erst dann ausgeübt werden könne. Auch ein vorgeburtlicher Sorgerechtsentzug, der erst mit der Geburt Wirkung entfalte, komme nicht in Betracht, denn insoweit würde es sich um eine verfassungsrechtlich nicht statthafte sog. "Vorratsentscheidung" handeln.[1]

Das OLG Hamm grenzt sich nun unter Ziffer II.1.) seines Beschlusses ausdrücklich von der Entscheidung des OLG Frankfurt a.M. ab. Die genauere Lektüre zeigt jedoch, dass die beiden Entscheidungen gar nicht so weit auseinander liegen, wie es im ersten Moment den Anschein hat. Auch das OLG Hamm geht nämlich im Einklang mit der ganz herrschenden Auffassung[2] davon aus, dass die elterliche Sorge erst mit der Geburt entsteht und befasst sich im Folgenden allein mit der Frage, ob der vorgeburtliche Sorgerechtsentzug als formell wirksamer Beschluss mit der Geburt des Kindes Wirkung entfaltet oder aber "ins Leere" geht. Das OLG Frankfurt a.M. aber dürfte ebenfalls von einem formell wirksamen Beschluss ausgegangen sein, denn es hat in seinem Tenor nicht etwa die Wirkungslosigkeit des erstinstanzlichen Beschlusses festgestellt, sondern diesen dahin gehend abgeändert, dass vor der Geburt des Kindes familiengerichtliche Maßnahmen nicht veranlasst sind.[3] In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Wirkungslosigkeit gerichtlicher Entscheidungen allgemein nur in extremen Ausnahmefällen angenommen wird. Von den anerkannten Fallgruppen[4] könnte ggf. der Ausspruch einer dem Recht unbekannten Rechtsfolge in Betracht gezogen werden, soweit eine Entscheidung ausschließlich die Entziehung der elterlichen Sorge für den vorgeburtlichen Zeitraum ausspricht. Die Entziehung der elterlichen Sorge ab dem Zeitpunkt der Geburt ist dagegen von der §§ 1666, 1666a BGB zweifellos umfasst, weshalb insoweit nicht vom Ausspruch einer der Rechtsordnung unbekannten Rechtsfolge gesprochen werden kann. Zutreffend hat ferner das OLG Hamm darauf hingewiesen, dass Sorgeerklärungen nicht miteinander verheirateter Eltern gemäß § 1626b Abs. 2 BGB bereits vor der Geburt abgegeben werden können. Auch die Anerkennung der Vaterschaft ist gemäß § 1594 Abs. 4 BGB vorgeburtlich möglich; und in bestimmten Fällen kann gemäß §§ 1774 S. 2, 1777 Abs. 2 BGB schon vor der Geburt ein Vormund für das Kind bestellt bzw. benannt werden. Entscheidungen bzw. Willenserklärungen, die erst im Zeitpunkt der Geburt des Kindes Wirkung entfalten, sind dem deutschen Recht somit nicht unbekannt. Schließlich gibt es in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch keine Hinweise darauf, dass die unzulässigerweise "auf Vorrat" ergangenen familiengerichtlichen Maßnahmen als rechtlich wirkungslos betrachtet werden und die Aufhebung der betreffenden Beschlüsse durch das Bundesverfassungsgericht nur deklaratorisch zu verstehen ist.

Umgekehrt ist für die Frage, ob im Falle einer vorgeburtlichen Sorgeentziehung eine verfassungsrechtlich nicht statthafte "Vorratsentscheidung" vorliegt, mit der Feststellung der formellen Wirksamkeit des Beschlusses noch nichts gewonnen. Das OLG Hamm hat sich in seinem Beschluss mit diesem verfassungsrechtlichen Aspekt nicht weiter auseinander gesetzt und musste dies auch nicht tun, da zum Zeitpunkt seiner Entscheidung das verfahrensbetroffene Kind – anders als in dem der Entscheidung des OLG Frankfurt a.M. zugrunde liegenden Fall – bereits geboren war.

Die "Vorratsrechtsprechung" des Bundesverfassungsgerichts befasst sich mit Fällen, in denen sich die Entziehung der elterlichen Sorge bzw. des Aufenthaltsbestimmungsrechts mangels Geeignetheit oder Erforderlichkeit der Maßnahme als unverhältnismäßiger Eingriff in das Elternrecht gem. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG darstellt, weil eine Fremdunterbringung zeitnah nicht möglich oder beabsichtigt ist. Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu ausgeführt, bereits durch die Entziehung des Sorgerechts würden die betroffenen Elternteile erheblich belastet, weil sie dies in der Ausübung des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG auch dann merklich einschränke, wenn die Kinder im elterlichen Haushalt belassen würden. Zudem habe der Vormund auf der Grundlage des ihm übertragenen Aufenthaltsbestimmungsrechts die Möglichkeit, die Herausnahme der Kinder aus dem elterlichen Haushalt jederzeit ohne weitere Mitwirkung des Familiengerichts herbeizuführen.[5]

Die vom Bundesverfassungsgericht beanstandeten...

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